Freitag, 6. November 2020

Gesundheitsrisiko

Was ist am gefährlichsten: Ein Haifisch, eine Kokosnuss oder ein Handy? – Tippen Sie mal spontan, welches dieser drei Dinge das grösste Gesundheitsrisiko für einen Menschen darstellt. – Leider stehen die Chancen gut, dass Sie jetzt nicht 100%-ig ins Schwarze getroffen haben. Die Meisten würden auf den Haifisch tippen: Dass Kokosnüsse manchmal jemandem auf den Kopf fallen, das hat man schon mal gehört, aber sicher ist noch nie jemand von einem Smartphone angegriffen und lebensgefährlich verletzt worden.  Nun, die Reihenfolge ist gerade anders rum. 2019 gab es wegen Haifischangriffen gerade mal 2 Tote, wegen herunterfallenden Kokosnüssen sterben aber jährlich rund 150 Personen. Und 2018 sind 259 Personen gestorben, weil sie das perfekte Selfie von sich machen wollten. Und da sind die noch gar nicht mitgezählt, die aufgrund ihrer Handy-Sucht depressiv geworden sind und Selbstmord begangen haben.

Es scheint, dass es uns Menschen schwerfällt, Gefahren richtig einzuschätzen. Wenn uns rasch ein dramatisches Bild in den Sinn kommt (wie beim Haifisch), dann finden wir etwas gefährlich. Wenn wir erst genau überlegen müssen, worin die Gefahr überhaupt bestehen könnte (Handy), dann halten wir etwas für wenig gefährlich. Dieser Effekt ist in der Forschung unter «Availability-Bias» bekannt, Verfügbarheits-Verzerrung: Die leichte Verfügbarkeit von gefährlichen Bildern wird für das Abschätzen der Gefährlichkeit verwendet. Das macht unser Gehirn ganz automatisch, ohne dass wir dabei etwas mitbekommen. Dieser Effekt ist aber mehr als nur ein Party-Gag. Er zeigte sich dramatisch nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, bei dem fast 3000 Menschen ums Leben kamen. Sehr viele Menschen hielten das Fliegen in den folgenden Monaten für unsicher und sind weite Strecken mit dem Auto gefahren. Wenn man die zusätzlichen gefahrenen Autokilometer mit den üblichen Zahl an Verkehrstoten pro zurückgelegte Strecke aufrechnet, kommt man auf 1600 Menschen, die aufgrund einer falschen Risiko-Einschätzung gestorben sind.

Was nun? – Wir sollten überlegen, ob wir im Fall von Corona nicht einem ähnlichen Effekt unterliegen. Verstehen Sie mich richtig: Corona ist gefährlich und wir sollten uns davor schützen. Völlig klar. Aber wenn Forschende sich daran machen zu verstehen, was denn zu einem langen Leben führt, dann kommen Sie immer wieder auf einen zentralen Faktor, der herausragt. Und wenn der fehlt, dann sterben wir früher. Es ist nicht der Sport, es ist nicht das Nicht-Rauchen, ja nicht einmal die gesunde Ernährung oder unser BMI. Es sind unsere Beziehungen: Wer sich ein einem Netz von vielen guten, warmherzigen Beziehungen befindet, wer sich sozial eingebunden fühlt, lebt länger. Lassen wir also nicht zu, dass die Corona-Masken uns einsamer machen. Lassen wir nicht zur, dass wir weniger mitfühlende Wesen werden. Ganz egal, unter welch einschränkenden Bedingungen wir die kommenden Tage verbringen werden: Freuen wir uns miteinander, dass wir einander haben. Zeigen wir uns diese Freude gegenseitig - allen Hindernissen zum Trotz. Wenn Sie eine Person kennen, die vielleicht nicht so viele soziale Kontakt hat, dann rufen Sie sie an. Heute. Und sagen Sie einfach, dass es Sie wundernimmt, was in ihrem Leben dieser Tage gerade so passiert. Mehr braucht es nicht. Fröhliche Weihnachtszeit.

 

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Dienstag, 3. November 2020

Glück kaufen (Part 2)

Shopping und Psychopharmaka sind die beiden wichtigsten Arten, wie man sich mit Geld Glück zuführen kann. Haben Sie's, wie in der letzten Kolumne erläutert, ausprobiert? Sind Sie damit nicht glücklich geworden und möchten drei weiteren Arten kennen lernen? Bitte schön. Leider sind sie allesamt unwichtig.

Die erste unwichtige Art ist das Glückskaufs ist die Psychotherapie. Leider kann ich Ihnen das gar nicht empfehlen, weil da müssen Sie sich mit sich selbst befassen. Sie können nicht einfach hingehen und sich mal schön therapieren lassen. Nein, die Therapeuten stellen bloss irritierende Fragen, die ganze mühsame Arbeit bleibt an Ihnen selber hängen. Ehrlich. Das grenzt an Etikettenschwindel! - Nun, nicht ganz, denn immerhin ist erwiesen, dass kognitive Verhaltenstherapie mindesten ebenso wirksam ist wie Psychopharmaka. Nur ist sie eben viel mühsamer. Und peinlich. Wenn Sie in eine Therapie gehen, müssen Sie das ja unbedingt geheim halten. Und dann ist es erst noch weniger nachhaltig: Schon nach zehn, zwölf Sitzungen ist die Sache gegessen und der Therapeut ist arbeitslos, während Sie mit der Tabletten-Variante lebenslag Jobs in der heimischen Pharmaindustrie sichern würden. Und zusätzlich noch in der Krankenversicherungsbranche. Wem das noch nicht reicht: Laut Bundesamt für Gesundheit gehen zwei Drittel aller Personen mit schweren Depressionen nicht zum Therapeuten. Also ehrlich: Wer will schon in der Minderheit sein und sich auf einen so unpopulären Ansatz einlassen?

Die zweite unwichtige Art des Glückskaufs ist das Meditieren. Der alte Einwand ist leider nicht mehr gültig, dass man sich dazu zu einer Religion bekennen oder einen Schneidersitz machen muss. Meditieren kann man nicht nur als Buddhist, sondern auch als Christ, Hindu oder Jude, sogar als Atheist oder Agnostiker. Und es geht im Sitzen, Liegen oder Stehen. Mit dem besterforschten, religiös unabhängigen Ansatz von „Minfulness based Stress Reduction“ (MBSR) sind Sie dabei. Es dauert nur 8 Wochen, danach fühlen sich die Menschen glücklicher und weniger gestresst. Das scheint zunächst kurz, denn auch Prozac müssen Sie mindestens vier Wochen lang regelmässig einnehmen, bevor es zu wirken beginnt. Der Pferdefuss ist der: Sie müssen täglich dreiviertel Stunden lang meditieren. Viele Kursteilnehmende machen das danach freiwillig weiter. Unglaublich, diese ineffiziente Zeitverschwendung: Einfach dasitzen und nichts tun! Und dann noch ein Pferdefuss: Die innere Gelassenheit, die da trainiert wird, führt zu Vorstellungen wie „zwischendurch mal unglücklich sein gehört zum Leben“. - Igitt! Es ist ja klar, wenn man den Leuten solche Dinge lange genug einredet, dass Sie dann meinen, glücklich zu sein, wenn man sie nur schon in Ruhe lässt. In Wirklichkeit sind sie dann unglücklich wie eh und je, nur bewerten sie alles etwas anders. Da lob‘ ich mir eine ehrliche Shoppingtour. Das ist dann wenigstens kein Selbstbetrug oder so.

Und dann gibt es neuerdings noch die Positivity-Trainings. Auch das ist wissenschaftlich fundiert, aber unpopulär, denn das braucht etwas Selbstdisziplin. Sie müssen Dankesbriefe schreiben, jemandem helfen oder sich überlegen wofür Sie in ihrem Leben dankbar sind, solche Dinge halt. Eigentlich macht das sehr viel Spass. Unbedeutend ist diese Art nur deshalb, weil Sie zuerst zwischen unseriösen und wissenschaftlichen fundierten Angeboten unterscheiden müssen und dann feststellen, dass es von der seriösen Sorte nur wenige gibt. Das Feld ist sehr jung und die Forschung ist eben gerade erst soweit Resultate zu liefern, die man praktisch verwenden kann. – Bei einigen Glücksübungen geht es übrigens ums Hoffen. Geben Sie also die Hoffnung nicht auf, dass irgendwann in Ihrer Nähe ein seriöses Glückstraining angeboten wird und dass Sie dann zufällig davon erfahren.
Viel Glück!

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Noch nicht genug vom Glück?  Auszüge aus meinem Referat "Frohes Schaffen - Was uns die Glücksökonomie zu sagen hat" kann man sich hier anschauen.


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Montag, 26. Oktober 2020

Glück kaufen (Part 1)

Glück ist heute auch nicht mehr, was es früher einmal war. Früher hat man noch in die Verfassung geschrieben, dass jeder auf seine Weise nach Glück streben darf, oder so. Zumindest in den USA. Zwar sind dann nur viele auf die eigene Weise depressiv geworden, aber wenigstens nicht auf die zentralstaatliche oder diktatorische Art, sondern schön demokratisch und föderal. Und das war dann auch schon ein Fortschritt.

Heute ist Glück nicht mehr etwas, wonach man strebt, sondern etwas, das man hat. Jedenfalls in der Schweiz, die in allen internationalen Glücks-Studien auf den vordersten Plätzen rangiert. Und sollte mal doch etwas nicht nach Plan laufen, so kann man Glück ja kaufen. Falls Sie im Glück-Kaufen etwas unerfahren sind, hier eine kleine Einführung: Im Prinzip gibt es fünf Arten, wie man sich Glück zuführen kann, zwei wichtige und drei unwichtige.

Die erste und wichtigste Art ist das „Shopping“. All das Unglück, das sich im Alltag so anhäuft mit einem doofen Chef, einer zickigen Freundin oder einer Schramme im Autolack, kann einfach „weggeshoppt“ werden. Es gibt mittlerweile wissenschaftliche Ratgeber, die mit Tipps aufwarten. Beispielsweise: Viele kleine Dinge kaufen statt etwas Grosses, da resultiert mehr Glück draus. Also bitte nicht etwa sparen oder sowas Verrücktes, sondern sofort los-shoppen. - War das eine Studie aus den USA? Egal. -  Und wer es sich doch nicht verkneifen kann, auf etwas zu sparen, der soll wenigstens für eine grosse Reise sparen und regelmässig davon träumen. Das macht scheint‘s schon glücklich, selbst wenn es dann nie zu der grossen Reise kommt, weil man den Ratschlag vom «los-shoppen» so gut beherzigt und das nötige Kleingeld bereits verjubelt hat. Ach ja, und ein bisschen Selbstlosigkeit beim Shoppen tut gut: Schenken Sie Ihrer Freundin ein schickes T-Shirt, das sie dann zu den anderen fünfunddreissig in den Schrank legen kann. Das macht zwar nicht die Beschenkte glücklich, aber Sie, weil Sie sich grossherzig vorkommen. „Shopping“ als die ultimative Art von Glück ist in letzter Zeit leider etwas in Verruf geraten, weil es nicht nachhaltig sei. Zu unrecht. Denn was ist auf die lange Sicht schon nachhaltig? Jeder Ökonom weiss: langfristig sind wir alle tot. Und solange Ende des Monats noch Geld auf das Konto kommt, steht dem permanenten Shopping-Glück auch langfristig nichts im Weg.

Die zweite wichtige Art heisst „Prozac“. Das ist der Name eines Psycho-Arzneimittels, das für eine ganze Familie von Präparaten steht, die alle messbar glücklich machen. Okay, jetzt müssten wir darüber anfangen zu diskutieren, was wir unter Glück genau verstehen, aber auf solche Diskussionen sollte man sich nicht einlassen. Solche Diskussionen machen nicht glücklich. Jedenfalls kann man eben, wenn das mit dem Shopping trotzdem irgendwie nicht klappt, solche Tabletten einwerfen. Das ist volkswirtschaftlich effizient, weil der Kummer viel grösser ist, als die Kosten für die Tablettenherstellung – und zwar inklusive Anteil für die horrenden Boni der Topmanager. – Okay, es gibt da eine kleine Einschränkung mit den Nebenwirkungen: Magenbeschwerden und Vergesslichkeit. Aber wer will sich wegen etwas Magenrumpeln beschweren, wenn er dafür glücklich ist? Und gab es da nicht sowieso zwei, drei Dinge, die Sie lieber vergessen wollten? – Jetzt kommen Sie mir nicht wieder mit der Nachhaltigkeit. Man sollte die Tabletten dann einfach nicht mehr absetzen, dann ist gut, auch langfristig.

Und was ist mit den unwichtigen Arten des Glückskaufs? Das hat jetzt leider keinen Platz mehr, aber Sie erfahren zum Glück mehr dazu in der nächsten Kolumne.

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Auszüge aus einem Referat "Frohes Schaffen - Was uns die Glücksökonomie zu sagen hat" kann man sich hier anschauen.

 
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Samstag, 29. August 2020

Genug

Das Wort «genug» ist unscheinbar und doch steckt darin massiver Sprengstoff: Wie viele Flugmeilen pro Jahr sind genug? Wie viele Bundesratssitze für die Grünen sind genug? Wieviel Gleichstellung ist genug … und woran würden wir die genügende Gleichstellung erkennen, wenn sie da wäre?


[Wir merken nicht, wenn wir genug gearbeitet haben.]

Wir kommen natürlich zu unterschiedlichen Schlüssen, was Wunder. Aber wir tauschen uns mehr über die Schlüsse aus als über den Prozess, der dazu geführt hat. Es gälte doch erst mal Argumente zu sammeln, unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen, den Andersdenkenden zuzuhören und sie nicht sofort als «Gegner» abzustempeln und die eigene Befangenheit zur Kenntnis zu nehmen: ehrlich, liebevoll, aber nicht selbstverliebt. - Unglaublich, wie rasch uns die Frage nach «genug» zu einem zentralen Verfahren des menschlichen Zusammenlebens führt. Eines, das sich in Familien, Freundeskreisen, Schulen, in Gemeinwesen und in der Welt ständig wiederholt. Dies leider in stark unterschiedlicher Qualität. Wie gestalten wir diesen Prozess? – Meistens gar nicht. Er passiert einfach. Er erscheint uns zwangsläufig. Und selbst wenn wir die Qualität des Prozesses betrachten, dann erkennen wir doch stets die anderen, die nicht zuhören. Unser eigenes Weghören,  blenden wir aus.
Wie kommen junge Menschen dazu, den Prozess des gemeinsamen Aushandelns zu erlernen, wann genug ist? Davon haben wir eher verschwommen Vorstellungen. Es steht jedenfalls kaum im Lehrplan. Genug Fastfood. Genug Handy-Zeit. Genug Hausaufgaben. Genug Klimawandel. – Das wäre doch wichtig, oder? Spannend finde ich, dass in der Ökonomie das Konzept von «genug» nur einseitig vorkommt. Es gibt das Konzept vom «abnehmenden Grenznutzen», das besagt, dass man Erdbeeryoghurt noch so sehr mögen kann, aber wenn man ausschliesslich davon essen darf, hat man bald genug. Aber eine andere Lesart von «genug» kommt nicht vor: Die Selbstbeschränkung durch Einsicht. «Es wäre zwar toll, im Herbst nach Griechenland zu fliegen, aber ich bin dieses Jahr schon genug geflogen.» Diesen Gedanken in ökonomische Termini zu übersetzen ist ohne Kapriolen nicht möglich, denn die Ökonomie davon aus, dass mehr immer besser ist als weniger. Das mag ja oft stimmen, aber am Punkt wo wir genug haben, kehrt sich das gerade um. Da wird weniger mehr. Und hier kommen wir zum wirklich Faszinierenden an «genug»: Unsere Unfähigkeit zu erkennen, wann dieser Punkt längst überschritten ist: Arbeiten wir genug oder eher zuviel? – Ökonomen aufgepasst:
Genügen 5 Monate Arbeit in einem Jahr? Ein CEO macht 7 Monate Auszeit, kommt zurück, merkt dass es ihn fürs Tagesgeschäft gar nicht mehr braucht, nutzt die neue Freiheit, sich um strategische Fragen zu kümmern und führt das Unternehmen auf einen neuen Wachstumspfad.  Genügen vier statt fünf Tage Arbeit pro Woche für alle? Nein? Microsoft Japan führt für begrenzte Zeit diese Regel ein und stellt fest, dass sich die Leistung aller deutlich ansteigt und plant natürlich, das Experiment zu wiederholen … und eine Rechtsberatungs-Firma in Neuseeland erklärt die Viertage-Woche nach zweimonatiger Versuchsphase gar für permanent. - Genügt es, wenn ein Sozialarbeiter nur die Hälfte der sonst üblichen Anzahl Fälle betreut?  In einem wagemutigen Experiment stellt ein Sozialdienst in der Schweiz zusätzlichesPersonal ein. Die dadurch entlasteten Sozialarbeiter können sich jetzt besser um ihre Klienten kümmern und diese kommen rascher ohne staatliche Unterstützung aus, sodass deutlich mehr eingespart wird als der notwendige Personalzuwachs kostet.
Solche Beispiele haben wir bitter nötig, denn davon verstehen wir wirklich nicht genug.


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Zur Wirksamkeit der 4-Tage-Woche bei gleichem Lohn, siehe auch hier und hier und hier.



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Montag, 3. August 2020

neunormal

Jetzt, da die akute Phase der Coronakrise abzuebben scheint, wünschen sich Viele die Rückkehr zur Normalität. Verständlich. Aber die Krise geht nur in eine nächste Phase. Aber vor allem hat sie uns zuviel gekostet, als dass wir weitermachen sollten wie vorher.

 [Das alte "normal" war ein Dämmerzustand. ]

Und überhaupt, was war denn vorher? Wir erinnern uns schon gar nicht mehr so genau und neigen zum Romantisieren. Vorher war ein Händedruck so stinknormal, dass uns der kurze Moment körperlichen Kontakts nur selten aufgefallen ist. Vorher war uns der subtile Prozess des gemeinsamen Aushandelns von Nähe und Distanz bei einem Gespräch nur in Ausnahmefällen bewusst. Vorher wussten wir nicht, wieviel Lebensqualität wir gewinnen, wenn wir aufhören, täglich zu pendeln. Wollen wir, ja können wir in diesen Dämmerzustand zurück?  - Ja wir können. Alte Gewohnheit rostet nicht. Auch wenn wir uns gerne als lernfähige Wesen betrachten, so ist der Mensch ein Gewohnheitstier, das sich sehr rasch in alten, eingeschliffenen Verhaltensmustern wiederfindet - und ebenso rasch Ausreden parat habt, warum das so Sinn mache und unausweichlich sei: Damals, im Lockdown, das waren halt noch andere Zeiten. - Ausser vielleicht, man nimmt sich Zeit, darüber nachzudenken, was denn eben nicht einfach wieder normal, sondern «neunormal» werden soll. Hier sind ein paar Anregungen dazu:
  • Neunormal könne sein, dass wir Homeoffice-kompetent sind. Genauso, wie ich weiss, ob ich beim leisteten Luftzug eine warme Jacke brauche oder noch bei winterlichen Temperaturen ein kurzarm Shirt genügt, weiss ich auch ob Homeoffice für mich heute passt und entscheide mich mit erheblichem Freiraum und innerhalb von Grenzen.
  • Neunormal könnte sein, dass wir kompetent sind in virtueller Kommunikation. Wir wissen, wann ein Treffen geradesogut virtuell geht und wann wir auf einem physischen Treffen bestehen müssen. Wir wissen, was wir tun können, um die negativen Seiten von virtueller Kommunikation abzufedern. Wir gestalten unsere Interaktionen und fühlen uns auch dann nicht als Opfer einer Technologie, wenn sie uns stellenweise einschränkt.
  • Neunormal könnte sein, dass wir nicht mehr von «social distancing» sprechen, sondern von «physical distancing» und «social connection», weil wir gelernt haben, wie wichtig es ist, das eine nicht mit dem anderen zu vermischen und wie sehr es uns auslaugt, wenn wir es trotzdem tun.
  • Neunormal könnte sein, dass wir uns nicht wie Befehlsempfänger verhalten, die einfach einen Job machen, sondern wie erwachsene, reife Menschen, die sich erst informieren und dann entscheiden; und die merken, wann sie allein entscheiden können und wann sie andere beiziehen müssen.
  • Neunormal könnte sein, dass wir nicht wieder damit anfangen, nach perfekten Lösungen zu suchen, sondern unser wichtigstes Entscheidungskriterium «gut genug zum ausprobieren» bleibt. - Oh, was für ein Unterschied! Und das gelingt vor allem, wenn Viele das gemeinsam wollen. Wäre das nicht eine Führungsaufgabe? – Nicht uns vorzuschreiben, was neunormal ist. Uns zu inspirieren und uns dazu anzuleiten, damit wir gemeinsam und mutig beschliessen, was bei uns neunormal sein soll.
  • Neunormal könnte sein, dass Führungskräfte solche Prozesse anregen und begleiten und dass sie uns dabei auf Augenhöhe begegnen.
  • Neunormal könnte sein, dass wir jede Begegnung mit anderen Menschen als Geschenk empfinden und versuchen, diesen Moment zu wertschätzen, indem wir nicht vorausdenken, uns nicht von Kleinigkeiten ablenken lassen oder uns in eigenen Gedankengängen verlieren, sondern einfach freundlich und interessiert da sind. Dass wir immer wieder von neuem zu schätzen wissen, was uns Facebook, Twitter und Instagram nicht wirklich bieten können: Menschliche Präsenz. 


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Fachkurs Mindful Leadership BFH 2020

Tagung zu Achtsamkeit in Organisationen am 16. Oktober 2020 in Bern. 

 


 



 

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Montag, 29. Juni 2020

Achtsamkeit für die Praxis

Was ist Achtsamkeit, wie soll man üben und: Warum ist das für Erfolg in der Digitalen Transformation besonders wichtig? - Hier finden Sie eine kurze Einleitung, eine konkrete Übung und einen Veranstaltungshinweis.


https://www.mindfulorganizations.ch/
Mindfulness in Organizations - Tagung in Bern 16.10.2020

Donnerstag, 4. Juni 2020

Flexibilität


Flexibilität bedeutet schlicht Biegsamkeit. Was flexibel ist, ist biegbar ohne zu brechen, formbar ohne zu zerfallen. Das Gegenteil wäre womöglich Sprödheit oder Starrheit. Der Begriff Flexibilität wird im Kontext der Volkswirtschaft oft auf Arbeitsmärkte bezogen. Wenn die Löhne flexibel wären, dann würden bei einer Wirtschaftsflaute alle Arbeitnehmer gleichzeitig ein paar Prozente weniger verdienen.

[Flexibilität wäre wichtig, ist aber nicht einfach.]

Sind sie jedoch starr, werden ein paar Prozent der Arbeitnehmer entlassen und die Übriggebliebenen müssen zum gleichen Lohn die Arbeit der Entlassenen auch noch erledigen. Für die Entlassenen ist das meist dramatisch, aber es ist auch für die anderen ein Problem, denn plötzlich sind sie die Noch-Nicht-Entlassenen: Die blosse Furcht, vielleicht auch entlassen zu werden führt, wie Studien zeigen, zu einem herben Verlust an Lebenszufriedenheit. Das ist selbst dann der Fall, wenn es eine vernünftige Arbeitslosenversicherung gibt. Es geht also nicht nur um Geld. Natürlich hat man sich gefragt, wo die mangelnde Flexibilität am Arbeitsmarkt herkommt. Sie scheint irgendwie in der Natur des Arbeitsmarktes zu liegen. Märkte für Rohöl oder Metallschrauben funktionieren da anders. Aber warum kann man Entlassungen nicht einfach verbieten? - Es ist nicht das Mitleid mit den armen Unternehmern, das hier zögern lässt, sondern die Überlegung, dass Unternehmen kaum einstellen, wen sie später nicht entlassen können. Sie würden sich grossflächig mit temporären Verträgen behelfen, was weder den Arbeitnehmern wirklich hilft, noch erfolgreiche Unternehmen ins eigene Land ziehen würde. Es ist also eine Zwickmühle, aus der man nicht ganz heraus kommen kann, in der es einen geschickten Kompromiss zu finden gilt. Die Schweiz hat sich da bekanntlich recht gut aufgestellt, Kompromisse sind unsere Stärke.
Im Kontext der Managementliteratur wird Flexibilität zwar ebenfalls oft auf das Arbeitsverhältnis bezogen, aber ganz anders verstanden. Es geht dort vor allem um flexible Arbeitszeiten. Der Begriff ist dort allerdings etwas schillernd, weil es zwei sehr verschiedene Arten der Flexibilität gibt, die leider nicht immer auseinander­gehalten werden. Das eine ist die Flexibilität, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitgebers orientiert, sprich, an der Auftragslage: Arbeiten auf Abruf, wenn grad viel los ist, und sonst eben nicht. Die andere Flexibilität ist die, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitnehmers orientiert: Spätestens 16h42 ist Schluss, damit die Tochter pünktlich um 17h00 vom Kindergarten abgeholt werden kann. Das heisst zwar dann auch flexible Arbeitszeit, aber als Arbeitnehmer ist man da extrem unflexibel.
Was bemerkenswerterweise kaum diskutiert wird, ist jene Form der Flexibilität, welche die Volks- und betriebswirtschaftliche Sicht verbindet. Es werden nämlich unter der Hand Beispiele von einzelnen innovativen Unternehmen herumgeboten, bei denen die Löhne in einer Krise linear um 10% gesenkt worden sind. Oder ein Fall, wo die Geschäftsleitung zwar den Mitarbeitenden ankündigte, in sechs Monaten würde allen der Lohn linear gekürzt, wenn die Auftragslage so schlecht bleibt, aber dann per sofort mit gutem Beispiel voran ging und sich selbst den Lohn um 20% kürzte. Das wäre doch ein Hingucker! Da wird es auf einmal glaubwürdig, wenn das Management behauptet, die Mitarbeiter seien ihr wichtigstes Kapital. Und gegen die Arbeitslosigkeit ist damit auch vorgesorgt. – Ja, ist das denn möglich? Können das andere Manager nachmachen? Gibt es da nicht juristische Scherereien ohne Ende? – Solche Sorgen sind berechtigt, aber vielleicht sind die Ursachen dafür hausgemacht. Ich vermute, es ist so: Man unterschätzt ganz gewaltig den Gemeinsinn, den Menschen an den Tag legen können, wenn es Hoffnung gibt und wenn man sie anständig und aufrichtig behandelt - und zwar in der Volkswirtschaftslehre wie in der Managementlehre. Die Coronakrise hat an vielen Orten gezeigt, wie Menschen in Krisenzeiten zusammenstehen und sich gegenseitig unterstützen. Auch Forschungen bestätigen das – nur sind sie leider weitgehend unbekannt. Es ist höchste Zeit, dass wir uns darauf besinnen, jetzt, wo sich die nächste Krise am Arbeitsmarkt ankündigt. Dazu bräuchte es aber wohl etwas geistige Flexibilität.


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