„Haben Sie in der Schule bei Prüfungen gemogelt?“ ist eine
von vielen Fragen, die eine Zeitung wöchentlich wiederkehrend portraitierten
Führungskräften gestellt hat. Natürlich habe ich mir überlegt, was ich
antworten würde. – „Nein.“ klingt nicht schlecht, aber lässt einen als Streber
dastehen, als Spassbremse oder als Perfektionist, der zu unbedeutenden Jugendverfehlungen
nicht stehen kann. – „Ja, klar.“ Da steht man als unehrlicher Mensch da und
wird sofort in einer bestimmten Schublade versorgt. – „Weiss nicht, ist lange
her…?“ Da bist Du ertappt und willst es nicht einmal zugeben, das ist wohl das
Mieseste!
[Von der Jugendsünde zum wirtschaftlichen Sprengstoff.]
[Von der Jugendsünde zum wirtschaftlichen Sprengstoff.]
Ist das nicht seltsam? Wir alle haben doch gemogelt. Ein
Zyniker würde vielleicht antworten: „Wenn ich in der Schule gemogelt hätte,
würde ich vielleicht auch bei einem Interview nicht die Wahrheit sagen, also
was soll die Frage?“ Aber wer so antwortet, hat den Kontext nicht begriffen. Null
Sozialkompetenz. Es geht bei der Frage weder um ein Verhör noch um eine
intellektuelle Analyse. Es geht darum, wie einer damit umgeht, wenn Ehrlichkeit
gefragt ist, aber Selbstschädigung lauert. Man muss sich elegant durchwursteln: Die Sache so darstellen, dass
es gut klingt, ohne direkt zu lügen. Gute Führungskräfte können sowas. Wo haben
sie das gelernt? Sicher nicht an der Universität. - In der Schule haben wir bloss
gelernt, dass man nicht mogeln darf. Und wenn, dass man sich wenigstens nicht
erwischen lassen sollte. Und das war‘s dann. Dabei gäbe mittlerweile zwei wichtige
Erkenntnisse, die alle wissen sollten.
Erstens: Menschen sind im Allgemeinen sehr ehrlich. Wenn Sie
dem spontan nicht zustimmen, sollten Sie bedenken: Vor allem unehrliche
Menschen halten andere für ziemlich unehrlich (Autsch!). Und zweitens: Wenn wir
in einem Interessenkonflikt sind, wenn es also darum geht ob wir ehrlich sind
oder der Dumme, dann sind die meisten Menschen „ziemlich ehrlich“, das heisst:
Viele mogeln, aber nur ein bisschen. Solches schliesst man aus Studien wie
dieser: Zuerst wird ein Fragebogen zum Allgemeinwissen von Studierenden gelöst,
anschliessend werden die Fragebögen korrigiert und die Studierenden erhalten
eine von der erreichten Punktzahl abhängige Belohnung. Nachdem man nun weiss,
wie gut die Studierenden im Durchschnitt abschneiden, ändert man die
Versuchsanordnung so, dass die nächsten Studierenden den selben Fragebogen
ausfüllen, aber selbst korrigieren können. Geben sich nun alle 100 Punkte?
Überhaupt nicht. Aber bei Selbstkorrektur schneiden die Studierenden immer ein
paar Prozente besser ab. Dieses Resultat verändert sich nur geringfügig, wenn
die Fragebögen vor der Belohnungsverteilung vernichtet werden und es absolut
sicher ist, dass selbst dramatisches Mogeln nie und nimmer aufgedeckt werden
kann. Wie kommt das? Offenbar ist kaum jemand bereit, den Fragebogen so zu
manipulieren, dass er oder sie sich selbst als absoluten Lügner betrachten
müsste. Aber so geht es vielleicht: „Bei Frage sieben, da wollte ich doch
eigentlich zuerst noch das Richtige ankreuzen, und habe mich vertan und … also eigentlich hätte ich das schon
gewusst, also, diese Frage die bewerte ich mir als richtig.“
Diese Erkenntnisse haben weitreichende Konsequenzen. Wir
dürfen davon ausgehen, dass überall wo Interessenkonflikte bestehen auch
gemogelt wird. Genug um zu profitieren, aber nicht so viel dass es eklatanter
Betrug wäre. Wahrscheinlich gewöhnt man sich dann ans Mogeln. Und wenn es die
anderen auch tun, entsteht stillschweigend ein Standard des „akzeptablen“
Mogelns, der sich mit der Zeit nach oben bewegen kann. – Wäre das Vermeiden von
Interessenkonflikten also wichtig? Denken Sie mal nach. Möchten Sie, dass ein Richter
für seine „Dienstleistung“ von den Streitparteien finanziert wird? Nicht? Aber
ein Arzt, der sein Einkommen steigern kann, wenn er mehr Medikamente verkauft
und mehr operiert, das geht? Ein Finanzberater, der mehr Bonus erhält, wenn Sie
Aktien kaufen statt Obligationen, das ist kein Problem? Und stellen Sie sich
eine Bank vor, wo das Schönen der Qualität von Junk-Bonds „nur ein bisschen“ am
Hauptsitz passiert, diese Informationen „nur ein bisschen“ weiter geschönt
werden in den Länder-Organisationen, dann nochmals „nur ein bisschen“ am
internen Briefing und dann nochmals beim Gespräch mit dem Kunden. Da finden Sie
keinen Bösewicht, die Bosheit ist im System. Und das System heisst nicht
einfach nur Lehman Brothers, Enron oder VW,
sondern die Grenzen müssen weiter gezogen werden, sodass sie Politik und Aufsichtsbehörden
umfassen. Dann nämlich, wenn Gesetze und Kontrollverfahren zum Mogeln einladen.
Das hat mich aufhorchen lassen: Zwei führende Wirtschaftsprofessoren meinen, alle Weltwirtschaftskrisen seien auf systematisches Mogeln zurückzuführen. Es könnte also gut sein, dass Mogeln eine wirklich weltbewegende Sache ist. – Egal. Wir haben ja in der Schule alle nur ein bisschen gemogelt. Eigentlich fast gar nicht. Und ich persönlich, ich habe in der Schule nie gemogelt, ausser wenn ich die Prüfung unfair fand.
Das hat mich aufhorchen lassen: Zwei führende Wirtschaftsprofessoren meinen, alle Weltwirtschaftskrisen seien auf systematisches Mogeln zurückzuführen. Es könnte also gut sein, dass Mogeln eine wirklich weltbewegende Sache ist. – Egal. Wir haben ja in der Schule alle nur ein bisschen gemogelt. Eigentlich fast gar nicht. Und ich persönlich, ich habe in der Schule nie gemogelt, ausser wenn ich die Prüfung unfair fand.
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