Montag, 4. Mai 2015

Geldillusion


Der Begriff „Geldillusion“ stammt nicht – wie man vielleicht meinen könnte – aus einem antikapitalistischen Vokabular, sondern gehört zum Standard-Repertoire der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Geldillusion bezeichnet die Tatsache, dass Menschen bei unerwarteter Inflation sich eine Weile lang über den Wert des Geldes täuschen können. Man bekommt eine Lohnerhöhung, freut sich und fängt an, mehr Geld auszugeben; dabei merkt man gar nicht, dass die Waren im Gleichschritt mit der Lohnerhöhung teurer geworden sind und dass man eigentlich nicht mehr verdient als zuvor. Mir persönlich hat diese Theorie zwar nie ganz eingeleuchtet. Meiner Erfahrung nach wissen jene Menschen, die sich vornehmlich mit dem Ausgeben des Haushaltsgeldes befassen, sehr genau, was die Dinge kosten*. Aber item.

[Viele Menschen machen sich darüber Illusionen, welchen Beitrag Geld zu ihrem langfristigen Glück leistet.] 

Der Zusammenhang ist empirisch gut belegt und Ökonomen haben sich dazu auch eingehend Gedanken gemacht. Etwa, dass eine Nationalbank, um die Wirtschaft anzukurbeln, unerwartet etwas Geld drucken und damit Inflation produzieren könnte. Dank der Geldillusion würde die Nachfrage kurzfristig steigen. Man weiss aus Erfahrung zwar, dass das funktioniert, man ist sich aber auch einig, dass das keine allzu schlaue Idee ist, weil sich die Leute ja nur kurzfristig täuschen und die Nationalbank längerfristig ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Und weil Inflation es den Leuten schwer macht, längerfristige Verträge abzuschliessen. Und weil Inflation den Wert des Geldvermögens mindert, also die Sparer trifft.
Die Teuerung betrug in der Schweiz 2014 ziemlich genau 0% und die Prognosen für die kommenden Jahre liegen kaum höher. In Zeiten wie diesen, scheinen Inflation und Geldillusion gar kein Thema zu sein. Ausser man ringt dem Begriff „Geldillusion“ eine andere, weniger konventionelle Bedeutung ab und bezieht ihn darauf, dass sich viele Menschen darüber Illusionen machen, welchen Beitrag Geld zu ihrem langfristigen Glück leistet. Hier liesse sich tatsächlich festhalten, dass insbesondere relativ wohlhabende Menschen sich systematisch darüber täuschen, wie sehr die Lohnerhöhung eines Karriereschritts sich auf ihre Lebenszufriedenheit auswirkt. Der Effekt ist zwar da, aber er verpufft innert weniger Monate weitgehend. An den neuen Wagen, den man sich folglich leistet, hat man sich rasch gewöhnt und man findet sich in einem neuen Kollegenkreis wieder, in dem alle mehr verdienen und tollere Autos fahren. Der mittelfristige Zufriedenheits-Effekt ist nahe bei null. Diesen Zusammenhang könnte man zwar mit Fug „Geldillusion“ nennen, er wird aber gemeinhin „Hedonistische Tretmühle“ genannt. Dazu kommt dann noch, dass die zusätzliche Verantwortung und die Mehrbelastung bleiben. An Stress gewöhnt man sich nämlich nicht. Und die Zeit, die wir statt mit Freunden zu verbringen dazu aufgewendet haben, um unsere Vorgesetzten zu beeindrucken, kommt nicht wieder.
Verstehen Sie das richtig: Sollten Sie gerade dabei sein, Ihren nächsten Karriereschritt zu planen, so lassen Sie sich nicht abhalten. Aber tun Sie es, weil die Aufgabe Sie reizt, weil Sie Freude an einer neuen Tätigkeit verspüren, nicht wegen des Geldes. Denn, letztlich handelt es sich beim Geld ja nur um bunte Papierchen. Sie sind eigentlich nichts Wert. Ihr praktischer Wert besteht ja nur deshalb, weil wir kollektiv daran glauben, dass sie etwas wert seien und weil alle mitspielen in diesem Spiel. Viellicht liegt ja auch hier der tiefere Sinn des Begriffs „Geldillusion“.
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*) Dass Frauen gut mit Geld umgehen können, wird übrigens eindrücklich belegt in der sehenswerten Online-Ausstellung: www.frauenundgeld.ch

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