Dienstag, 2. Dezember 2014

Neid

Neid ist eine Emotion, die Menschen überkommt angesichts dessen, was andere haben. Damit wird der Neid als Triebfeder der modernen Wirtschaft betrachtet. Eine Triebfeder, die allerdings nur dann funktioniert, wenn der Neid in geordnete Bahnen gelenkt wird: Der spontane Impuls, dem anderen das Begehrte wegzunehmen, muss unterdrückt und in Anstrengung umgemünzt werden. Das funktioniert zwar nicht immer, aber in Gesellschaften mit einer stabilen Rechtsordnung klappt es eigentlich recht gut.

[Vielleicht wäre es eben doch nicht so dumm, Neid als Charakterschwäche zu sehen.]

Daher schöpfen auch nur Wenige Verdacht, wenn der Neid in der Wirtschaftswissenschaft nicht als Charakterschwäche, sondern „Bedürfnis“ behandelt wird. Das könnte sich aber als folgenschwerer Irrtum erweisen. Denn während sich Grundbedürfnisse nach Nahrung und Schutz, nach Geborgenheit und sogar nach sozialer Anerkennung grundsätzlich befriedigen liessen, sorgt der Neid dafür, dass die Bedürfnisse nie enden: Das Gras ist immer grüner in Nachbars Garten. Somit gibt es immer zu wenig grünes Gras, es herrscht immer Knappheit.
Die Wirtschaft, die sich definitionsgemäss um die Überwindung der Knappheit bemüht, hat natürlich vorgesorgt, damit ihr die Aufträge nicht wegbrechen. Sie schafft die Bedürfnisse erst, indem sie uns mit Werbung vollpumpt, unsere Vorstellungen manipuliert, was wir für „normal“ halten, und uns neidisch macht. Wenig überraschend hat man etwa herausgefunden, dass Männer, denen man eine Weile lang Bilder von schönen Frauen zeigt, danach unzufriedener sind mit ihrer Lebenspartnerin.

Genau auf diesen Effekt zielt das Marketing ab. Die eigentliche Informationsfunktion, die das Marketing legitimieren würde, hat das Marketing längst abgegeben, weil es nichts mehr zu informieren gibt. Die Produkte haben sich unter dem Wettbewerbsdruck angeglichen. Früher gab es mitunter noch Autos, die rosteten und laufend Pannen hatten. Da gab es noch etwas zu informieren. Heute sind die Autos qualitativ auf einem derartigen Stand, dass der ADAC seine Pannenstatistik fürs Jahr 2014 umschreibt, sodass Pannen der ersten zwei Jahren schon gar nicht mehr gezählt werden, weil es so wenige sind. - Schön, sagt der Ökonom, da sieht man wieder einmal, was der Wettbewerb alles zustande bringt. Und Recht hat er. Die Frage ist nur, zu welchem Preis. Und damit meine ich nicht die 80‘000 für einen neuen, pannensicheren Wagen der Oberklasse, sondern die Überlastung der Menschen, die sich über alle Massen anstrengen, um ein gesellschaftliches Status-Symbol ihr Eigen zu nennen.
Über alle Massen? Wer bin ich denn, um den Menschen vorzuschreiben, wie sehr sie sich anstrengen sollen? Bin ich etwa nur neidisch? Würde ich letztlich nicht auch gerne einen exklusiven Wagen fahren? – Wer in die Gesundheitsstatistik der Schweiz schaut, kommt nicht umhin sich die Frage zu stellen, warum wir uns selbst trotz unserem Reichtum so wenig Gutes tun. Warum arbeiten und überlasten wir uns, bis wir krank werden?  Warum lassen wir zu, dass die Wirtschaft uns mit Fernsehproduktionen und Werbung zumüllt, die uns anschliessend so handeln lassen? – Vielleicht wäre es eben doch nicht so dumm, Neid als Charakterschwäche zu sehen. Man braucht ja auch nicht zu übertreiben und Neid gleich eine Sünde zu nennen. Es genügt, wenn allen klar ist, dass dem eigenen Glück im Weg steht, wer oft Neid empfindet und dass so jemand Anlass hätte, etwas dagegen zu unternehmen.

Stört es Sie, dass alle Weltreligionen dies oder Ähnliches sagen? Dann vertrauen Sie vielleicht lieber der  Glücksforschung, sie kommt zum selben Schluss: Dankbarkeit, zum Beispiel, ist trainierbar. Aber wer würde schon in ein Dankbarkeits-Training gehen? Wir gehen lieber in einen Kurs „Wie Sie sich besser durchsetzen“. Oder dann – unmittelbar nach unserem Burnout - in einen geruhsamen Gärtner-Kurs. In welchem wir feststellen, dass der Kollege nicht nur die schöneren Rosen hat, sondern auch die bessere Gartenschere und die modischere Gärtner-Jacke. Na, wenigstens wissen wir dann, wozu wir uns nach unserem Burnout wieder anstrengen sollen.

Montag, 10. November 2014

Bruttosozialprodukt*

Das Bruttosozialprodukt (BSP) ist eine Kenngrösse für das Wirtschaftswachstum, oder genauer gesagt, „die“ Kenngrösse für das Wirtschaftswachstum. Es ist in dieser Rolle sowohl wissenschaftlich wie auch politisch international anerkannt, es wird seit Jahrzehnten systematisch erhoben. Und es ist fast völlig unbestritten. Das heisst, nicht so ganz völlig. Die Mängel des BSP als Messgrösse der Wirtschaftsleistung eines Landes sind der Wissenschaft längst bekannt. Sie sind untersucht und da man nichts Besseres gefunden hat, wurden sie unter einer unförmigen Masse an lauwarmem Konsens begraben. Dabei ist die Mängelliste nicht kurz und ziemlich dramatisch.

[...was in unserer Gesellschaft zählt und folglich gezählt werden soll.]

Je mehr Autounfälle desto höher das BSP: Autos und Menschen zusammenflicken kurbelt die Wirtschaft an. Je mehr Einbrüche desto höher das BSP: Türen und Fenster wieder reparieren und Ersatz für die gestohlenen Güter kaufen, das kurbelt die Wirtschaft an. Je mehr Mütter ihre Kinder fremdbetreuen lassen, je weniger Bauern sich selbst versorgen, desto höher das BSP: Die höhere Arbeitsteilung führt dazu, dass schon bisher erbrachte Leistungen neu in Geld abgegolten werden und dann erfasst werden. All das ist nicht nur zynisch, es ist auch widersinnig, weil das BSP den Wohlstand einer Nation messen soll. In den Köpfen der Menschen sitzt die Formal: Je mehr BSP, desto besser. Dabei ist gerade dieser Zusammenhang vor vierzig Jahren aus den Angeln gehoben worden mit einer wissenschaftlichen Studie, die gezeigt hat: Auch wenn sich das BSP über die Jahrzehnte hinaus verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht hat, das Glück, das Menschen in Befragungen zu Protokoll geben, ist praktisch konstant gelblieben. Und natürlich haben drei verwegene Wissenschaftler versucht, statistische Mängel zu finden und einen Deckmantel geschaffen für die, die es nicht glauben wollten. Dabei muss man nicht studiert haben und zu verstehen: Selbst wer viel verdient, kann sein Einkommen vielleicht irgendwann verdoppeln, aber wer auf einer 10er-Skala des Glücks bereits eine 7 hat, wird sein Glück damit nie verdoppeln. „Mehr Geld macht glücklich“ kann langfristig irgendwie nicht so richtig hinhauen und schon gar nicht für solche die schon etwas Geld haben oder schon einigermassen zufrieden sind.

Statistische Ämter auf der ganzen Welt geben sich seit fast ewigen Zeiten Mühe, die eigene Wirtschaft korrekt zu messen. Die einen mit mehr, die anderen mit weniger Druck ihrer Vorgesetzten, die Resultate zu schönen. Einigermassen erklärbar ist, warum statistische Ämter nicht auf die fundamentale Kritik am BSP eintreten: Sie müssten zugeben, dass sehr viel Anstrengung der vergangenen Jahre umsonst war und… es gibt nichts Besseres. Das heisst, es gibt schon Alternativen, recht viele sogar, aber alle haben ihre eigene Krankheiten und Besonderheiten, jede hat ihre eigene, kleine Lobby-Gruppe, aber zu keiner Kennzahl gibt es so viel Konsens wie zur wahrscheinlich schlechtesten Alternative, dem Status Quo.

Nun lesen wir in der Zeitung, dass fernab von öffentlichen, politischen Debatten das BSP um zwei Kleinigkeiten erweitert wurde: Drogenhandel und Prostitution. Die bereits zweifelhaften Erhebungsmethoden werden um zwei weitere, zynische Facetten reicher. Der Konsens unter den Statistikern hat dazu genügt. Mich hat das überrascht. Mir wäre jedenfalls keine Studie bekannt, die besagt, dass Vorgesetzte von Statistischen Ämtern überdurchschnittlich oft kiffen oder Bordelle besuchen. Man kann nur hoffen, dass die Statistiker es weiter so bunt treiben, dass die Öffentlichkeit sich um diese Fragen kümmert und endlich ein Diskurs stattfindet, was in unserer Gesellschaft zählt und folglich gezählt werden soll.

*) Eigentlich heisst es heute korrekt Bruttonationaleinkommen BNE. Weil der alte Name geläufiger ist, darf er hier im Titel stehen.

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