Montag, 5. November 2018

Willenskraft


Unter Willenskraft kann man die Fähigkeit verstehen, Entscheide auch dann richtig zu fällen, wenn sie unangenehm sind und es eine bequemere, aber falsche Alternative gäbe. Wer merkt, dass der aktuelle Job ihn langsam krank macht, aber noch keine neue Stelle in Aussicht hat, braucht Willenskraft um zu künden. Wer wegen Übergewicht weniger Kalorien zu sich nehmen möchte und an einer duftenden Imbissbude vorbeigeht, braucht Willenskraft, um nicht stehenzubleiben und die eigenen Vorsätze über den Haufen zu werfen.

[Ohne Willenskraft ist vernünftiges Wirtschaften unmöglich.]

So gesehen ist die Willenskraft eine der wichtigsten ökonomischen Fähigkeiten des Menschen überhaupt. Kaum wären je ein Schiff gebaut, ein Acker gepflügt, ein Brot gebacken worden, wären wir nicht in der Lage, kurzfristigen Bequemlichkeiten und Verlockungen zu widerstehen.
Interessanterweise kann man Ökonomie studieren, ohne einer Theorie der Willenskraft zu begegnen oder auch schon nur schon einer Theorie, in der Willenskraft eine Rolle spielt. Dabei belegen Studien längst in eindrücklichster Weise ihre Wichtigkeit. Im berühmten Marshmallow-Experiment wurde kleinen Kindern eine duftende Süssigkeit vor die Nase gesetzt und der Versuchsleiter stellte klar, dass das Kind die doppelte Ration bekommt, wenn es diese hier nicht isst, bis der Versuchsleiter zurückkommt, worauf er den Raum verliess. Hinterhältigerweise wartete er aber so lange, bis das Marshmallow verschlungen war. So konnte man feststellen, wie lange die Kleinen der Versuchung standhielten. Dieser Versuch aus den 70er-Jahren wäre wohl in Vergessenheit geraten, wenn nicht über zwei Jahrzehnte später Daten der mittlerweile erwachsenen Probanden des damaligen Tests erhoben worden wären. Es zeigte sich, dass die mit dem Marshmallow-Test gemessene Willenskraft eine erstaunlich hohe Vorhersagekraft auf den beruflichen Erfolg hatte. Zu diesem Zeitpunkt konnte man aber nicht sicher sein, ob diese Willenskraft vielleicht einfach nur angeboren war. Mittlerweile haben sich mindestens drei Faktoren gezeigt, wie man die eigene Willenskraft beeinflussen kann.

Der erste Faktor betrifft unseren Körper.  Wenn wir unsere Muskeln anspannen, sind wir eher in der Lage, einen unangenehmen, aber richtigen Entscheid zu treffen. Das bedeutet, wenn wir uns bewusst sind, dass wir einen wichtigen, unangenehmen Entscheid treffen müssen, können wir einen einfachen Trick anwenden: Erst die Muskeln anspannen, dann entscheiden. Das hilft.
Der zweite Faktor betrifft die mentale Erschöpfung. Versuchungen zu widerstehen ist anstrengend. Die Wahrscheinlichkeit einer aktuellen Verlockung nachzugeben ist höher, wenn wir kurz vorher bereits ein, zwei Versuchung standhalten mussten. Die Regel, dass man nie hungrig zum Einkaufen gehen sollte, fusst letztlich auf diesem Effekt. Man kann mit dieser Erkenntnis aber noch mehr Praktisches anfangen: Wenn Sie Ihrer Vorgesetzten ein tolles, aber riskantes Projekt vorstellen und ihre Unterstützung gewinnen wollen, achten Sie darauf, dass Sie es möglichst früh am Morgen präsentieren. Dann ist die Willenskraft Ihrer Vorgesetzten am grössten und ebenso die Wahrscheinlichkeit, dass sie Ihr gutes, aber unkonventionelles Projekt genehmigen wird. Wenn das nicht geht, dann finden Sie wenigstens einen Termin direkt nach dem Mittagessen.
Der dritte Faktor sind die Rahmenbedingungen unseres Alltags. Wer Gewicht abnehmen möchte und sein  Arbeitsweg führt an einem Schnellimbiss vorbei, hat massiv schlechtere Chancen, das eigene Ziel zu erreichen. Sich einen anderen, womöglich zwei Minuten längeren Arbeitsweg anzugewöhnen braucht wahrscheinlich weniger Willenskraft als täglich zu widerstehen und steigert die Erfolgschancen enorm. „Führe uns nicht in Versuchung“ wäre demnach weniger als frommer Wunsch zu verstehen, denn als Bedienungsanleitung für die Gestaltung des eigenen Alltags.
Zugegeben, Willenskraft ist nicht alles. Zuerst müsste man ja wissen, welches überhaupt der richtige Entscheid ist. Falls Sie da noch unschlüssig sind, dann wünsche ich Ihnen, dass Sie, um die Frage zu klären, die nötige Willenskraft aufbringen.


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