Samstag, 29. August 2020

Genug

Das Wort «genug» ist unscheinbar und doch steckt darin massiver Sprengstoff: Wie viele Flugmeilen pro Jahr sind genug? Wie viele Bundesratssitze für die Grünen sind genug? Wieviel Gleichstellung ist genug … und woran würden wir die genügende Gleichstellung erkennen, wenn sie da wäre?


[Wir merken nicht, wenn wir genug gearbeitet haben.]

Wir kommen natürlich zu unterschiedlichen Schlüssen, was Wunder. Aber wir tauschen uns mehr über die Schlüsse aus als über den Prozess, der dazu geführt hat. Es gälte doch erst mal Argumente zu sammeln, unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen, den Andersdenkenden zuzuhören und sie nicht sofort als «Gegner» abzustempeln und die eigene Befangenheit zur Kenntnis zu nehmen: ehrlich, liebevoll, aber nicht selbstverliebt. - Unglaublich, wie rasch uns die Frage nach «genug» zu einem zentralen Verfahren des menschlichen Zusammenlebens führt. Eines, das sich in Familien, Freundeskreisen, Schulen, in Gemeinwesen und in der Welt ständig wiederholt. Dies leider in stark unterschiedlicher Qualität. Wie gestalten wir diesen Prozess? – Meistens gar nicht. Er passiert einfach. Er erscheint uns zwangsläufig. Und selbst wenn wir die Qualität des Prozesses betrachten, dann erkennen wir doch stets die anderen, die nicht zuhören. Unser eigenes Weghören,  blenden wir aus.
Wie kommen junge Menschen dazu, den Prozess des gemeinsamen Aushandelns zu erlernen, wann genug ist? Davon haben wir eher verschwommen Vorstellungen. Es steht jedenfalls kaum im Lehrplan. Genug Fastfood. Genug Handy-Zeit. Genug Hausaufgaben. Genug Klimawandel. – Das wäre doch wichtig, oder? Spannend finde ich, dass in der Ökonomie das Konzept von «genug» nur einseitig vorkommt. Es gibt das Konzept vom «abnehmenden Grenznutzen», das besagt, dass man Erdbeeryoghurt noch so sehr mögen kann, aber wenn man ausschliesslich davon essen darf, hat man bald genug. Aber eine andere Lesart von «genug» kommt nicht vor: Die Selbstbeschränkung durch Einsicht. «Es wäre zwar toll, im Herbst nach Griechenland zu fliegen, aber ich bin dieses Jahr schon genug geflogen.» Diesen Gedanken in ökonomische Termini zu übersetzen ist ohne Kapriolen nicht möglich, denn die Ökonomie davon aus, dass mehr immer besser ist als weniger. Das mag ja oft stimmen, aber am Punkt wo wir genug haben, kehrt sich das gerade um. Da wird weniger mehr. Und hier kommen wir zum wirklich Faszinierenden an «genug»: Unsere Unfähigkeit zu erkennen, wann dieser Punkt längst überschritten ist: Arbeiten wir genug oder eher zuviel? – Ökonomen aufgepasst:
Genügen 5 Monate Arbeit in einem Jahr? Ein CEO macht 7 Monate Auszeit, kommt zurück, merkt dass es ihn fürs Tagesgeschäft gar nicht mehr braucht, nutzt die neue Freiheit, sich um strategische Fragen zu kümmern und führt das Unternehmen auf einen neuen Wachstumspfad.  Genügen vier statt fünf Tage Arbeit pro Woche für alle? Nein? Microsoft Japan führt für begrenzte Zeit diese Regel ein und stellt fest, dass sich die Leistung aller deutlich ansteigt und plant natürlich, das Experiment zu wiederholen … und eine Rechtsberatungs-Firma in Neuseeland erklärt die Viertage-Woche nach zweimonatiger Versuchsphase gar für permanent. - Genügt es, wenn ein Sozialarbeiter nur die Hälfte der sonst üblichen Anzahl Fälle betreut?  In einem wagemutigen Experiment stellt ein Sozialdienst in der Schweiz zusätzlichesPersonal ein. Die dadurch entlasteten Sozialarbeiter können sich jetzt besser um ihre Klienten kümmern und diese kommen rascher ohne staatliche Unterstützung aus, sodass deutlich mehr eingespart wird als der notwendige Personalzuwachs kostet.
Solche Beispiele haben wir bitter nötig, denn davon verstehen wir wirklich nicht genug.


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Zur Wirksamkeit der 4-Tage-Woche bei gleichem Lohn, siehe auch hier und hier und hier.



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