Sonntag, 3. April 2016

Marktgesellschaft

Okay, ich gebe es zu, das Wort Marktgesellschaft gibt es gar nicht, es müsste Marktwirtschaft heissen. Aber stellen wir uns vor, dass marktwirtschaftliche Prinzipien und Werte in einer Gesellschaft um sich greifen und Bereiche erobern, in denen sie früher wenig zu suchen hatten: Gesundheit oder Forschung, zum Beispiel, oder auch Politik, Strafvollzug und Nachrichtenwesen. Dann könnte man vielleicht von einer „Marktgesellschaft“ sprechen. Wie würde eine solche Gesellschaft aussehen?

[Wohlhabende Verbrecher können gegen Aufpreis in einer Erstklass-Zelle übernachten.]

In einer Marktgesellschaft wäre es normal, dass ein grosser Nachrichtensender von Staaten namhafte Summen kassiert und sie in der Folge als seine Kunden betrachten würde. Bei seinen objektiven und kritischen Berichterstattungen hätte er natürlich Rücksicht zu nehmen. Über Staaten wie etwa Bahrain, kann man schliesslich objektiv und kritisch berichten, in dem man eine Reportage macht über die Niederschlagung von Protesten oder über die Einweihung eines neuen Flughafens. Klar, dass da der Kunde ein Wörtchen mitzureden hat.
In der Marktgesellschaft wäre es in Ordnung, wenn Chefärzte Anreizverträge hätten, die Ihnen doppelte und dreifache Löhne versprechen, wenn sie genügend Hüftgelenkoperationen für das eigene Spital akquirieren. Dass sie dann bei der Beratung der Kunden (die früher Patienten hiessen) in einen Interessenkonflikt kommen, ist zwar bedauerlich, aber die psychische Belastung des Chefarztes wird ja entsprechend abgegolten und wenn einer nicht mitmachen will, findet sich eben ein anderer.
In der Marktgesellschaft würden sich nur Aussenseiter daran stören, dass man bei Politikern und Parteien nicht weiss, von wem sie finanziert werden. Und nur Querdenker fänden es überhaupt problematisch, dass Reiche mehr politischen Einfluss haben. Wenn etwa die Automobilindustrie ihren Einfluss auf die Politik so ausübt, dass sie nur lasch kontrolliert wird. Oder die Atom-Industrie sich Berater leistet, die ihr für viel Geld immer schlauere Wege aufzeigen, um gesetzliche Regelungen zu umgehen. Oder die Erdölbranche Studien finanziert,die den Klimawandel in Frage stellen. Oder die Bankenbranche Gewinne macht mit Risiken, welche sie auf die Gesellschaft abwälzt.
In der Marktgesellschaft stören sich nur Vereinzelte daran, wenn die Wirtschaft immer mehr die Forschung finanziert. Das sorgt schliesslich für eine unbürokratische, dynamische Forschung, die auf die Bedürfnisse der Praxis ausgerichtet ist. Auch wenn in der Folge Ärzte kaum mehr Zugang zu Studien haben, die nicht von der Pharmaziebranche geschönt sind. Kritiker werden mit einer Offenlegung der finanziellen Abhängigkeiten im Kleingedruckten mundtot gemacht, derweil allen klar ist, dass diese Offenlegung für die Praxis so gut wie wirkungslos ist. Sie geht in der Informationsflut unter und reicht bestenfalls alle paar Jahre für einen Skandal-Artikel, den die Öffentlichkeit rasch wieder vergisst. Warum überhaupt sollen Ärzte sich an einer Universität weiterbilden, wo  sie doch bei einem Chemie-Multi die geschönten Forschungsresultate aus erster Hand bekommen - zusammen mit einem reichhaltigen Apéro?
In der Marktgesellschaft ist es okay, wenn Firmen millionenschwer Werbung für ungesundes Essverhalten machen. Über Kostenbeteiligungen am Verpackungsmüll, der in  öffentlichen Abfalleimern landet, kann diskutiert und notfalls auch juristisch gestritten werden. Aber die Wahrnehmung der Mitbürgerinnen und Mitbürger nachhaltig zu verzerren, dass muss erlaubt bleiben, bitteschön. Das ist Wirtschaftsfreiheit. Der Bürger, die Bürgerin ist mündig, folglich gegen Manipulationen immun. Auch wenn die Forschung laufend das Gegenteil beweist. Statt in einem Nörgel-Diskurs wird diese Forschung marktwirtschaftlich sinnvoll eingesetzt: Die angewandte Verkaufspsychologie erklärt unseren jungen Betriebswirtschaft-Studierenden, wie man Menschen dazu bringt, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen und sich eigentlich nicht leisten können. Und die angewandte Finanzforschung erklärt ihnen, wie man Verträge gestalten muss, damit man sich gegen die unvermeidlichen Privatkonkurse absichert. Und die jungen Medizin- oder Sozialarbeit-Studierenden lernen, wie man Menschen danach wieder professionell aufpäppelt.
Auf den Punkt gebracht: In der Marktgesellschaft können wohlhabende Verbrecher für 155$ pro Nacht einen Upgrade in eine Erstklass-Zelle kaufen.


Eines sei nochmals deutlich festgehalten: Den Begriff „Marktgesellschaft“ gibt es nicht. - Sollte es ihn geben? Ist an den obigen Beispielen etwas Wahres dran? Verliert unsere Gesellschaft die ureigenen Werte aus den Augen, wenn wir uns überall an der Marktlogik orientieren? - Nun gut, ich will Sie jetzt nicht länger aufhalten, Sie haben bestimmt Lukrativeres zu tun, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

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Update Februar 2020: Offenbar regt sich etwas gegen die Marktgesellschaft - zumindest im Gesundheitswesen: Jetzt geraten die Ärzte-Boni insVisier


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Tagung zu Achtsamkeit in Organisationen am 16. Oktober 2020 in Bern.

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