Allgemein kümmert sich die Ökonomie wenig um die Verteilung
von Einkommen oder Vermögen, es geht nur darum, dass die Menge produzierter
Güter insgesamt möglichst gross ist. Das hängt mit der Definition von Effizienz
zusammen und andererseits damit, dass die Volkswirtschaft ohne Verteilungsfragen
schon kompliziert genug ist, da will man sich nicht mich Dingen beschäftigen, auf die es keine objektive Antwort gibt. Wenn der Blick dann doch auf die
Verteilung gelenkt wir, dann ist die ökonomische Standard-Position ist diese:
[Programmatische Überzeugung vs. empirische Evidenz]
Ungleichheit entsteht halt als Nebenprodukt des Produktionsprozesses. Man darf nicht meinen, dass man diese Ungleichheit künstlich reduzieren kann, ohne dass man auch Wirtschaftswachstum dafür opfert. Denn die wirtschaftliche Leistung liegt nicht einfach in einer Schatztruhe, aus der man sich bedienen kann, sondern sie muss jährlich neu erwirtschaftet werden. Das ist ein heikler Prozess. Es stimmt zwar, die Reichen werden immer reicher. Aber die Armen werden eben genau nicht immer Ärmer, sondern auch sie werden ebenfalls reicher. Es ist nur so, dass dieser Prozess etwas langsamer geht. So entsteht die wachsende Ungleichheit. Aber da alle stets reicher werden, lasst bitte die Finger von Umverteilungsspielen, denn die können das allgemein wohltuende Wirtschaftswachstum gefährden. (René Scheu, NZZ 14.12.2014)
Was mich wundert, ist, dass diese ökonomische Position auch heute
noch als vertretbar betrachtet wird, nachdem bis ins Detail
nachgewiesen worden ist, dass Ungleichheit allen schadet. Und zwar heftig. So
heftig, dass ein bisschen Wirtschaftswachstum, das man allenfalls zu opfern
hätte, eben genau nicht ins Gewicht fällt.
Schon in den 80er Jahren machte ein origineller Ökonom mit
einem einfachen Experiment auf die Sache aufmerksam. Er fragte Probanden:
Würden Sie lieber ein Jahreseinkommen von 100‘000 haben und in einem Quartier
leben, in dem alle anderen ebenfalls 100‘000 verdienen, oder aber ein
Jahreseinkommen von 150‘000, in diesem Fall würden Sie aber in einem Quartier
wohnen, in dem alle anderen 200‘000 verdienen. Viele zogen die erste Variante
vor – etwas, das mit gängiger ökonomischer Theorie nicht zu erklären ist. Genau:
Weil sie falsch ist. Im Jahr 2011 legte ein Forschungsduo eine umfassende Studie vor, welche zeigt, dass sich in den entwickelten Ländern praktisch
alles, was wir in einer Gesellschaft wichtig finden nicht verbessert,
wenn die Wirtschaft wächst, sich aber verschlechtert, wenn die Ungleichheit der
Einkommen zunimmt. In akribischer Kleinarbeit belegen sie, dass mit zunehmender
Ungleichheit unser Gefühl von Sicherheit abnimmt, ebenso die Wahrscheinlichkeit
psychisch gesund zu bleiben, insbesondere nicht an Depressionen oder Angststörungen zu leiden. Mit Ungleichheit
nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass wir drogen- oder alkoholsüchtig zu
werden, dass wir ermordet werden, und wenn nicht, dass wir im Gefängnis
landen. Es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen im eigenen Land
diskriminiert werden und dass es junge Menschen aus bildungsfernen Schichten
nicht schaffen, sozial aufzusteigen. – Nach all diesen schockierenden
Ergebnissen empfehlen die Forscher nicht, dass alle gleichviel verdienen
sollen. Das sozialistisch-kommunistische Experiment ist bekanntlich
gescheitert. Aber sie empfehlen, dass die Ungleichheit keinesfalls weiter
wachsen sollte und in jenen Ländern auf ein erträgliches Mass zu reduzieren
sei, wo sie bereits stark ausgeprägt ist.
2013 legt der Nobelpriesträger J. Stieglitz eine Studie vor, in der er
nachweist, dass die Politik in den USA die Märkte so geformt hat, dass sie vor
allem den Reichen dienen. Er findet das vor allem moralisch nicht in Ordnung,
zeigt aber zusätzlich, dass dadurch Wirtschaftswachstum verloren geht. 2014
legt Picketty eine riesige, weltweite Analyse vor, die in der Ökonomenzunft weltweit
Furore macht. Er schliesst aus seiner Untersuchung, dass es keine ökonomische
Kraft gibt, die gegen die Vermögenskonzentration wirkt und dass folglich ohne
politisches Eingreifen die Märkte dazu führen, dass die Reichen immer reicher
werden. Und Ende 2014 war dann eben obiger Text in der NZZ zu lesen und auch dieser
Tage werden vergleichbare Thesen lauthals vertreten.
Ich bin mir da nicht sicher, ob die empirische Evidenz gegenüber der programmatischen Überzeugung gleich behandelt wird. Ich vermute eher eine krasse Ungleichheit.
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Ich bin mir da nicht sicher, ob die empirische Evidenz gegenüber der programmatischen Überzeugung gleich behandelt wird. Ich vermute eher eine krasse Ungleichheit.
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