Montag, 10. November 2014

Bruttosozialprodukt*

Das Bruttosozialprodukt (BSP) ist eine Kenngrösse für das Wirtschaftswachstum, oder genauer gesagt, „die“ Kenngrösse für das Wirtschaftswachstum. Es ist in dieser Rolle sowohl wissenschaftlich wie auch politisch international anerkannt, es wird seit Jahrzehnten systematisch erhoben. Und es ist fast völlig unbestritten. Das heisst, nicht so ganz völlig. Die Mängel des BSP als Messgrösse der Wirtschaftsleistung eines Landes sind der Wissenschaft längst bekannt. Sie sind untersucht und da man nichts Besseres gefunden hat, wurden sie unter einer unförmigen Masse an lauwarmem Konsens begraben. Dabei ist die Mängelliste nicht kurz und ziemlich dramatisch.

[...was in unserer Gesellschaft zählt und folglich gezählt werden soll.]

Je mehr Autounfälle desto höher das BSP: Autos und Menschen zusammenflicken kurbelt die Wirtschaft an. Je mehr Einbrüche desto höher das BSP: Türen und Fenster wieder reparieren und Ersatz für die gestohlenen Güter kaufen, das kurbelt die Wirtschaft an. Je mehr Mütter ihre Kinder fremdbetreuen lassen, je weniger Bauern sich selbst versorgen, desto höher das BSP: Die höhere Arbeitsteilung führt dazu, dass schon bisher erbrachte Leistungen neu in Geld abgegolten werden und dann erfasst werden. All das ist nicht nur zynisch, es ist auch widersinnig, weil das BSP den Wohlstand einer Nation messen soll. In den Köpfen der Menschen sitzt die Formal: Je mehr BSP, desto besser. Dabei ist gerade dieser Zusammenhang vor vierzig Jahren aus den Angeln gehoben worden mit einer wissenschaftlichen Studie, die gezeigt hat: Auch wenn sich das BSP über die Jahrzehnte hinaus verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht hat, das Glück, das Menschen in Befragungen zu Protokoll geben, ist praktisch konstant gelblieben. Und natürlich haben drei verwegene Wissenschaftler versucht, statistische Mängel zu finden und einen Deckmantel geschaffen für die, die es nicht glauben wollten. Dabei muss man nicht studiert haben und zu verstehen: Selbst wer viel verdient, kann sein Einkommen vielleicht irgendwann verdoppeln, aber wer auf einer 10er-Skala des Glücks bereits eine 7 hat, wird sein Glück damit nie verdoppeln. „Mehr Geld macht glücklich“ kann langfristig irgendwie nicht so richtig hinhauen und schon gar nicht für solche die schon etwas Geld haben oder schon einigermassen zufrieden sind.

Statistische Ämter auf der ganzen Welt geben sich seit fast ewigen Zeiten Mühe, die eigene Wirtschaft korrekt zu messen. Die einen mit mehr, die anderen mit weniger Druck ihrer Vorgesetzten, die Resultate zu schönen. Einigermassen erklärbar ist, warum statistische Ämter nicht auf die fundamentale Kritik am BSP eintreten: Sie müssten zugeben, dass sehr viel Anstrengung der vergangenen Jahre umsonst war und… es gibt nichts Besseres. Das heisst, es gibt schon Alternativen, recht viele sogar, aber alle haben ihre eigene Krankheiten und Besonderheiten, jede hat ihre eigene, kleine Lobby-Gruppe, aber zu keiner Kennzahl gibt es so viel Konsens wie zur wahrscheinlich schlechtesten Alternative, dem Status Quo.

Nun lesen wir in der Zeitung, dass fernab von öffentlichen, politischen Debatten das BSP um zwei Kleinigkeiten erweitert wurde: Drogenhandel und Prostitution. Die bereits zweifelhaften Erhebungsmethoden werden um zwei weitere, zynische Facetten reicher. Der Konsens unter den Statistikern hat dazu genügt. Mich hat das überrascht. Mir wäre jedenfalls keine Studie bekannt, die besagt, dass Vorgesetzte von Statistischen Ämtern überdurchschnittlich oft kiffen oder Bordelle besuchen. Man kann nur hoffen, dass die Statistiker es weiter so bunt treiben, dass die Öffentlichkeit sich um diese Fragen kümmert und endlich ein Diskurs stattfindet, was in unserer Gesellschaft zählt und folglich gezählt werden soll.

*) Eigentlich heisst es heute korrekt Bruttonationaleinkommen BNE. Weil der alte Name geläufiger ist, darf er hier im Titel stehen.

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