Montag, 6. Februar 2023

Mensch mit Diskriminierungserfahrung


Man könnte meinen, wir hätten bereits genug moderne Sprachregelungen. Statt von Behinderten sprechen wir von Menschen mit Behinderung, statt von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen von Menschen mit Migrationshintergrund. Sollten wir neu auch von «Menschen mit Diskriminierungserfahrung» sprechen? Und falls ja, welcher bisherige Begriff würde damit abgelöst?

Letzteres ist leicht zu beantworten: Es würde damit nichts abgelöst. Es ist neuer Begriff, der eine neuartig zusammengestellte Gruppe von Menschen bezeichnet. Sollte es ihn geben? Haben Menschen, die diskriminiert werden Wichtiges gemeinsam?

Der Begriff würde sich zumindest als One-Liner in einer Comedy-Show eignen: «Mensch mit Diskriminierungserfahrung - Frau». Mit nur vier Worten wäre knackig darauf hingewiesen, dass alle Frauen das Gefühl kennen, sich in einer Gesellschaft zu befinden, in der andere einhellig meinen, man müsse sie nicht ernst nehmen, ihre Bedürfnisse zählten weniger und es sei völlig in Ordnung, sich über sie hinwegzusetzen. Alle Frauen kennen das Gefühl, unwidersprechbar-selbstverständlich als das «schwache Geschlecht» bezeichnet zu werden.

Interessanterweise entsteht damit automatisch die Gruppe der Menschen ohne Diskriminierungserfahrung. Sind das dann einfach die «alten, weissen Männer»? Eher nicht, es dürfte ja durchaus auch ein paar jüngere dabeihaben. Ihre gemeinsame Erfahrung zu beschreiben ist gar nicht so einfach. Wohl deshalb, weil es dabei um die Abwesenheit einer substanziellen Diskriminierungserfahrung geht. Die wahrscheinliche Konsequenz ist Ignoranz: Sie haben Mühe, sich in Diskriminierte hineinzuversetzen. Sie können Schmerz und Schaden nicht gut nachvollziehen. Und selbst wenn sie sich Mühe geben, ist es für sie schwierig, wirklich zu begreifen, wie tief so etwas geht. Und wie lächerlich die fast unvermeidlichen Ratschläge sind, die dann folgen und womöglich mit «Du musst halt …» beginnen.

Die Bezeichnung «Mensch ohne Diskriminierungserfahrung» kann man niemandem so wunderschön um die Ohren hauen wie «alter weisser Mann». Das macht den Begriff zunächst wenig attraktiv. Ich stelle mir allerdings schon vor, wie manch einer bei der Vorstellung narzisstisch gekränkt ist, es gäbe etwas, wovon er schlicht keine Ahnung habe.  Und ich stelle mir den Versuch vor, zu belegen, dass er auch einmal diskriminiert worden sei. Damals, in der ersten Klasse im Winter kurz vor dem Turnunterricht, weil seine Mutter ihn genötigt hatte, lange Unterhosen anzuziehen. Wie lächerlich auch immer solche Geschichten diskriminierungserfahrenen Menschen erscheinen mögen, sie könnten Ausgangspunkt für eine interessante Diskussion sein. Vielleicht müsste man nicht mit dem Hinweis einsteigen, dass es Unterschiede gibt zwischen einmal ausgelacht werden und struktureller Gewalt. Eher mit persönlichen Fragen: Wie hast Du reagiert? Was hat das mit Dir gemacht? Wie hättest du reagiert, wenn man Dir vorher jahrelang täglich gesagt hätte, Du seist nichts wert? Welche Verbündeten und welche Ressourcen hattest Du? Wie wäre es gewesen für Dich ohne diese? – Was hast Du aus Deiner Erfahrung gelernt? Hat Dich zu einem anderen Menschen gemacht? Zu einem toleranteren?

Je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee. Weil ich darin keinen politischen Kampfbegriff erkenne, sondern einen Begriff zur Verständigung.


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