Freitag, 2. Oktober 2015

50+


50+ (oder auch Ü50) ist eine politisch korrekte Formulierung für das politisch extrem unkorrekte „alt“. Ich darf das so direkt formulieren, ich bin bald 52. Bekanntlich hat es schwer hat auf dem Arbeitsmarkt, wer 50+ ist. Darum müsste der Titel dieses Textes eigentlich anders lauten, nämlich „Altersdiskriminierung“, aber ich wollte nicht unterschwellig vorwurfsvoll einsteigen.

[75% der Unternehmen erhielten gar keine 50+- Bewerbungen.]

Die spannende Frage ist:  Warum werden etwas ältere, qualifizierte Mitarbeitende nicht eingestellt – trotz Fachkräftemangel? Marketing- oder IT-Spezialisten werden gesucht wie wild. Firmen geben jede Menge Geld aus, um solche Fachkräfte zu finden und zu halten. Heftig wird in die Infrastruktur investiert, die ein flexibles, entspanntes Arbeiten ermöglichen soll. Wellness-Center-ähnliche Zustände breiten sich aus. Mitarbeiter-Duschen, Hängematten und Coffee-Lounges werden langsam selbstverständlich. So rüsten die Firmen auf im „War for Talents“. All das kostet sehr viel Geld und trotzdem leistet es sich die Schweizer Wirtschaft, viele hochqualifizierte, hochgesuchte Fachkräfte in der Arbeitslosigkeit zu belassen, eben die ab 50. Wie passt das zusammen?

Auf diese Frage gibt es drei Standardantworten. Die erste ist, dass man es den Ü50-ern nicht mehr zutraut, viel zu leisten, weil sie alt, ergo leistungsschwach oder zumindest weniger belastbar sind. Mag sein, dass diese Vorstellung verbreitet ist, aber sie ist längst wissenschaftlich widerlegt, jedenfalls für Kopfarbeiter. Die zweite Standardantwort ist das lauthals geforderte Verbot von Stellenanzeigen mit Altersangaben. Dieser Ansatz zeigt zwar in die richtige Richtung, dürfte aber weitgehend wirkungslos sein. Und drittens ist da noch das Argument, dass sie zu teuer seien. Menschen, die ein Jahr lang arbeitslos waren, sind was Lohnforderungen anbelangt aber erfahrungsgemäss recht flexibel. Insgesamt sind die Standard-Geschichten also nur mässig überzeugend.

Was mich irritiert ist, dass es kaum Studien gibt, die nach bessern Erklärungen suchen. Eine der wenigen, die es versucht, ist aber umso spannender: In Deutschland hatten 75% der untersuchten Unternehmen gar keine Bewerbungen von Ü50ern vorliegen. Keine einzige. Die Unternehmen, welche Ü50-Bewerbungen erhielten, gingen sehr unterschiedlich damit um: Nur die Hälfte davon stellte tatsächlich ü50er ein.  Das sind Befunde, über die sich mehr als fünf Sekunden nachzudenken lohnt! Nach meinem Kenntnisstand weiss zwar heute niemand genau, wo das Problem liegt, aber es gibt einige Verdachts­momente:

  • Schlechtes Selbstmarketing: Viele ältere Personen sind zu bescheiden, sie sind als „zu alte“ unterschwellig irgendwie  schuldbewusst und erkennen den Mehrwert nicht, den sie bieten können oder es  gelingt ihnen einfach nicht, nach hundert Absagen noch selbstsicher aufzutreten. Zumindest zeigt ein Programm in Australien deutliche Erfolge, das sich an der Logik der „Positiven Psychologie“ orientiert und Arbeitslose systematisch ihre eigenen Stärken entdecken lässt und sie mental stärkt, statt sie mit guten Ratschlägen einzudecken.
  • Angst vor Ansprüchen: Junge Vorgesetzte befürchten vielleicht, dass sich Ältere nichts von ihnen sagen lassen, kurz nach der Einstellung neue Lohnforderungen stellen und obendrein womöglich auch eher Ambitionen auf den eigenen Chefsessel haben.
  • Kurzfristiger Fokus: Branchenkenntnisse werden von Vorgesetzten überbewertet, weil der neue Mann, die neue Frau unbedingt sofort einsetzbar sein sollte. Nicht dass dies bei einer durchschnittlichen Verweildauer von weit über 10 Jahren für das Unternehmen eine Rolle spielen würde, aber für die betreffende Führungskraft ist Risiko- und Aufwandminimierung vielleicht ziemlich vernünftig. Dass es auch sehr wohltuend sein kann, wenn jemand Berufserfahrung in einer anderen Branche hat und dass man sich auch rasch einarbeiten kann, dafür gibt es ja wenige Garantien. Möglicherweise können auch nur Vorgesetzte die Vorteile eines Branchenwechsels schätzen, die selbst einen Branchenwechsel vollzogen haben.
  • Zweifel an der Pendlermotivation: Vorgesetzte, die einmal die Erfahrung gemacht haben, dass sie eine weit weg wohnende Person eingestellt haben, die dann ein Jahr später wieder kündigte, werden im Bewerbungsgespräch kaum zu überzeugen sein. Natürlich sollte man bei dieser Ausgangslage gar nicht erst eingeladen werden, aber hier sind Vorgesetzte vielleicht nicht immer ganz ehrlich mit sich selbst.

Wo ist das Forschungsprogramm, das diese – und vielleicht noch bessere - Hypothesen testet? Ein paar Forscher müsste es doch geben, die dafür zu begeistern wären. Denn soviel ist klar: Inserate mit Altersangaben zu eliminieren ist schön, aber die Alterslimiten in den Köpfen sind das wirkliche Problem. – Bitte sagen Sie mir jetzt nicht, wir müssten einfach auf eine junge, dynamische U40 Professorin warten, die mit ihren U25 Studierenden eine substantielle Studie vorlegt. Sonst haben wir echt ein Problem.

-------------------------------------- Das subjektive Wirtschaftslexikon von Alexander W. Hunziker


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