Geduld bezeichnet allgemein die Fähigkeit, zu warten und
damit zu leben, dass Wünsche nicht rasch erfüllt werden und dass Unangenehmes
nicht sofort verschwindet. Geduld beinhaltet daher das Anerkennen der eigenen
Ohnmacht, auch wenn es sich nur um eine vorläufige oder vorübergehende handelt.
[Geduld ist eine Tugend. Oder eigen Eigenschaft von Verlierertypen. Was jetzt?]
Interessant an der Geduld ist, dass sie scheinbar seit Jahrhunderten als Tugend
betrachtet wurde, während wir heute einen grossen Schritt weiter sind: In einem
Job interview auf die eigenen Schwächen angesprochen, können Sie völlig
gefahrlos zugeben, dass Sie «etwas ungeduldig» sind, denn nicht die Geduld,
sondern die Ungeduld wird heute als Stärke betrachtet. Oder können Sie sich den
Vorgesetzten vorstellen, der darauf sagt: Sorry, aber Ungeduldige können wir
hier leider nicht brauchen? Das ist höchst unwahrscheinlich. Zeit ist Geld, das
haben wir alle verinnerlicht. Vorwärtsstreben sollten wir. Vielleicht werden
wir hinfallen, aber dann werden wir wieder aufstehen und weiter
vorwärtsstreben. Natürlich sollten wir aus Fehlern lernen, aber die Zeit, um
wirklich zu verstehen, was schiefgelaufen ist, nehmen wir uns nicht, dafür sind
wir zu ungeduldig. Ewig jung und dynamisch sollten wir sein, wer alt und weise
ist, ist für nichts zu gebrauchen. So funktioniert zumindest das Beuteschema
der meisten Management-Recruiter.
Warum wird die Ungeduld so geschätzt? Es fällt schwer, das
zu verstehen. Ein Ansatz ist, Übertreibungen zu betrachten. Die Übertreibung
der Geduld ist die Tatenlosigkeit angesichts von Handlungsbedarf. Das soll ja
schon mal vorkommen, nicht selten sogar. Menschen schieben Dinge gern hinaus,
die nicht unbedingt jetzt sein müssen, Ungeduldige packen sie wohl eher an. So
könnte man’s verstehen. – Aber da ist auch die Übertreibung der Tatenlust, der
Hyperaktivismus. Es ist das hektische und fahrige Tun, das viel Energie raubt,
aber nichts bringt, da oberflächlich und konzeptlos. Das scheint mir eine weit
verbreitete «Manager-Krankheit» zu sein. - So herrscht also wieder Gleichstand
zwischen Geduld und Ungeduld.
Können wir die Wissenschaft zu Rate ziehen? In einem
aufwändigen und besonders sorgfältigen (um nicht zu sagen: geduldigen) Forschungsprojekt
hat sich ein grosses wissenschaftliches Team der Aufgabe verschrieben,
herauszufinden, welches menschliche Tugenden sind, die zu allen Zeiten in allen
Kulturen geschätzt worden sind und wie man sie messen kann. Nach gut dreieinhalb
jähriger Arbeit ist ein Resultat entstanden, das weltweit grosse Beachtung
findet: 24 universelle und messbare Charakterstärken. Wenn wir diese Liste
durchschauen finden wir Dinge wie Dankbarkeit, Humor und Liebe zum Lernen. Aber
die Geduld ist nicht enthalten. Die Ungeduld aber auch nicht. Das ist
bemerkenswert.
Ich habe mir Zeit genommen, um die Liste geduldig zu betrachten.
Nach einer Weile habe ich festgestellt, dass sie meine Fragen zur Geduld sehr
wohl beantwortet, wenn auch in unerwarteter Weise. Sie sagt zunächst: «Selbstregulierung»
sei eine universelle Tugend. Ich könnte nun Geduld unter Selbstregulierung
subsumieren und die Studie als Beweis nehmen, dass ich recht hatte. Weil ich
nicht so ungeduldig vorgegangen bin, habe ich mit der Zeit noch mehr in dieser
Liste entdeckt: Die Charakterstärke, die hilft, Dinge anzupacken ist der
Enthusiasmus. Die Charakterstärke die hilft, die Dinge zu Ende zu bringen ist
das Durchhaltevermögen. Die Charakterstärke, die uns erkennen lässt, wie
Einzelne für eine Sache zu gewinnen sind, ist die Soziale Intelligenz. Die
Charakterstärke, die uns die befähigt, eine ganze Gruppe für eine Sache
zu gewinnen, ist die Führungsstärke. Was uns hilft, uns selbst zu beherrschen,
wenn wir losziehen wollen, aber der Zeitpunkt ist ungünstig, ist die besagte Selbstregulierung.
Und zu erkennen, wann der richtige Zeitpunkt ist, dazu benötigen wir Weisheit.
Jenseits von Geduld und Ungeduld gibt es offenbar differenzierte
und messbare Tugenden, die uns helfen, im richtigen Zeitpunkt richtig zu
handeln oder abzuwarten. Ich finde es sehr erhellend und praktisch, so über Führungsqualitäten
nachzudenken. Aber bis sich diese Denkweise wirklich durchsetzt, braucht es
allerdings wohl noch … etwas Geduld.
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