Dienstag, 3. Dezember 2019

Nichts


Nichts definieren? Nichts scheint einfacher als das: Es ist einfach die Abwesenheit von allem. Aber bei genauerem Hinsehen ist es kompliziert. Um sich die Abwesenheit von allem vorzustellen, muss man ja erst an alles denken, um sich dann vorzustellen, es sei nicht da. Wirklich «alles» kann man sich aber noch viel weniger vorstellen als wirklich «nichts», dazu ist im Hirn einfach zu wenig Platz.

[Nichts ist relativ.]

Und das ist durchaus problematisch. Denn wenn wir bei «alles» auch nur ein bisschen selektiv sind, hat das Auswirkungen auf das «Nichts». Zwischenfazit: Wenn wir es logisch angehen, kommen wir zu keinem Ergebnis. Vielleicht sollten wir das Thema eher spontan anpacken. Was gibt es denn für spontane Deutungen zum Thema «nichts»? Für Investoren ist «nichts» vielleicht keine Rendite, für den Spitzensportler keine Medaille, für den Mediziner ist «nichts» kein Befund und für den Psychiater keine klinische Störung. Und für viele überarbeitete Manger wäre, einmal «nichts» zu tun zu haben das Grösste, der absolute Wahnsinn!
Um «nichts» tatsächlich zu veranstalten, müssen diese Manager allerdings auf eine abgelegene Alp begeben, wo sie wirklich nichts tun können. Gerade in unserer heutigen, vielbeschäftigten Welt, die uns immer rascher um die Ohren fliegt. Denn wenn wir ohne auf einer abgelegenen Alp zu sein, einmal wirklich nichts zu tun hätten, können wir es kaum geniessen. Wir zücken unser SmartPhone. Oder wir schnappen uns eine Gratis-Zeitung. Egal wie belanglos die Information, egal wie irrelevant die News: immer noch besser als gar nichts. Denn gar nichts, das halten wir nur sehr schwer aus. -  Ist das wirklich wahr? Oder ist das bloss wieder so ein Märchen, das uns der Zeitgeist auftischt?
Sieben Forscherinnen und Forscher aus den USA wollten es genau wissen. In elf verschiedenen Settings untersuchten sie, wie gerne Menschen einfach alleine sind mit «nichts», ihren eigenen Gedanken überlassen - und zwar nicht tagelang, sondern nur für sechs oder fünfzehn Minuten. Dabei stellten sie fest, dass die meisten es überhaupt nicht toll fanden, sondern lieber, irgendwelchen weltlichen Banalitäten nachgegangen wären. Nicht wenige bevorzugten es sogar, sich selbst freiwillig Elektroschocks zu verabreichen – und zwar solche, die wirklich weh tun. Bei einem vorangehenden Experiment hatten sie sie schon ausprobiert und angegeben, sie wären bereit etwas dafür bezahlen, um keine solche Stromstösse mehr zu bekommen. Autsch!
Menschen sind wirklich seltsam. Aber immerhin löst sich vielleicht damit ein anderes Rätsel. Nachdem die Forschung seit Jahrzehnten feststellt, dass es in körperlicher und mentaler Hinsicht enorm gesund ist, regelmässig zu meditieren, hat es mich bisher immer erstaunt, warum nur so Wenige von uns das tatsächlich schon ernsthaft ausprobiert haben. Nun wird mir klar: Viele stellen sich vielleicht vor, dass Meditieren bedeutet, dass man nichts tun und nichts denken sollte und finden es schrecklich - bevor sie es wirklich ausprobiert haben. Sie denken vielleicht: «Meditieren? – Lieber verpasse ich mir selbst ein paar Stromstösse!» Tatsächlich ist das «Nichts», das Anfänger beim Meditieren erfahren, nicht immer total angenehm. Aber schrecklich ist es auch nicht. Und nach sehr kurzer Zeit man fest, dass es entspannend wirkt. Und dass es unglaublich interessant ist. Und dass es auf sanfte Weise die friedfertigen, wohlwollenden und die weisen Seiten in einem weckt. Ich jedenfalls, würde als Teilnehmer in einem Experiment, in dem ich nichts zu tun habe, sofort meditieren - und es geniessen.
Oh, ich bin vom Weg abgekommen. Ich wollte doch nichts definieren. Ich habe es nicht geschafft und die Kolumne ist schon fast zu Ende. In Bezug auf diese Zielsetzung habe ich nichts erreicht. Falls Sie den Text bis hier doch nicht gänzlich unnütz fanden, so ergäbe sich daraus immerhin ein interessanter Hinweis: Vielleicht kann man sich «nichts» ja nicht als etwas Absolutes, sondern etwas Relatives vorstellen. Etwas, das relativ ist zu einer Zielsetzung. Und wenn man, wie beim Meditieren, jede Zielsetzung loslässt, würde sogar das Nichts verschwinden. Das wäre als mögliche Erkenntnis über «nichts» zumindest etwas.


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Montag, 4. November 2019

Geduld


Geduld bezeichnet allgemein die Fähigkeit, zu warten und damit zu leben, dass Wünsche nicht rasch erfüllt werden und dass Unangenehmes nicht sofort verschwindet. Geduld beinhaltet daher das Anerkennen der eigenen Ohnmacht, auch wenn es sich nur um eine vorläufige oder vorübergehende handelt.

[Geduld ist eine Tugend. Oder eigen Eigenschaft von Verlierertypen. Was jetzt?]

Interessant an der Geduld ist, dass sie scheinbar seit Jahrhunderten als Tugend betrachtet wurde, während wir heute einen grossen Schritt weiter sind: In einem Job interview auf die eigenen Schwächen angesprochen, können Sie völlig gefahrlos zugeben, dass Sie «etwas ungeduldig» sind, denn nicht die Geduld, sondern die Ungeduld wird heute als Stärke betrachtet. Oder können Sie sich den Vorgesetzten vorstellen, der darauf sagt: Sorry, aber Ungeduldige können wir hier leider nicht brauchen? Das ist höchst unwahrscheinlich. Zeit ist Geld, das haben wir alle verinnerlicht. Vorwärtsstreben sollten wir. Vielleicht werden wir hinfallen, aber dann werden wir wieder aufstehen und weiter vorwärtsstreben. Natürlich sollten wir aus Fehlern lernen, aber die Zeit, um wirklich zu verstehen, was schiefgelaufen ist, nehmen wir uns nicht, dafür sind wir zu ungeduldig. Ewig jung und dynamisch sollten wir sein, wer alt und weise ist, ist für nichts zu gebrauchen. So funktioniert zumindest das Beuteschema der meisten Management-Recruiter.
Warum wird die Ungeduld so geschätzt? Es fällt schwer, das zu verstehen. Ein Ansatz ist, Übertreibungen zu betrachten. Die Übertreibung der Geduld ist die Tatenlosigkeit angesichts von Handlungsbedarf. Das soll ja schon mal vorkommen, nicht selten sogar. Menschen schieben Dinge gern hinaus, die nicht unbedingt jetzt sein müssen, Ungeduldige packen sie wohl eher an. So könnte man’s verstehen. – Aber da ist auch die Übertreibung der Tatenlust, der Hyperaktivismus. Es ist das hektische und fahrige Tun, das viel Energie raubt, aber nichts bringt, da oberflächlich und konzeptlos. Das scheint mir eine weit verbreitete «Manager-Krankheit» zu sein. - So herrscht also wieder Gleichstand zwischen Geduld und Ungeduld.
Können wir die Wissenschaft zu Rate ziehen? In einem aufwändigen und besonders sorgfältigen (um nicht zu sagen: geduldigen) Forschungsprojekt hat sich ein grosses wissenschaftliches Team der Aufgabe verschrieben, herauszufinden, welches menschliche Tugenden sind, die zu allen Zeiten in allen Kulturen geschätzt worden sind und wie man sie messen kann. Nach gut dreieinhalb jähriger Arbeit ist ein Resultat entstanden, das weltweit grosse Beachtung findet: 24 universelle und messbare Charakterstärken. Wenn wir diese Liste durchschauen finden wir Dinge wie Dankbarkeit, Humor und Liebe zum Lernen. Aber die Geduld ist nicht enthalten. Die Ungeduld aber auch nicht. Das ist bemerkenswert.
Ich habe mir Zeit genommen, um die Liste geduldig zu betrachten. Nach einer Weile habe ich festgestellt, dass sie meine Fragen zur Geduld sehr wohl beantwortet, wenn auch in unerwarteter Weise. Sie sagt zunächst: «Selbstregulierung» sei eine universelle Tugend. Ich könnte nun Geduld unter Selbstregulierung subsumieren und die Studie als Beweis nehmen, dass ich recht hatte. Weil ich nicht so ungeduldig vorgegangen bin, habe ich mit der Zeit noch mehr in dieser Liste entdeckt: Die Charakterstärke, die hilft, Dinge anzupacken ist der Enthusiasmus. Die Charakterstärke die hilft, die Dinge zu Ende zu bringen ist das Durchhaltevermögen. Die Charakterstärke, die uns erkennen lässt, wie Einzelne für eine Sache zu gewinnen sind, ist die Soziale Intelligenz. Die Charakterstärke, die uns die befähigt, eine ganze Gruppe für eine Sache zu gewinnen, ist die Führungsstärke. Was uns hilft, uns selbst zu beherrschen, wenn wir losziehen wollen, aber der Zeitpunkt ist ungünstig, ist die besagte Selbstregulierung. Und zu erkennen, wann der richtige Zeitpunkt ist, dazu benötigen wir Weisheit.
Jenseits von Geduld und Ungeduld gibt es offenbar differenzierte und messbare Tugenden, die uns helfen, im richtigen Zeitpunkt richtig zu handeln oder abzuwarten. Ich finde es sehr erhellend und praktisch, so über Führungsqualitäten nachzudenken. Aber bis sich diese Denkweise wirklich durchsetzt, braucht es allerdings wohl noch … etwas Geduld.


 
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