Sonntag, 3. Februar 2019

Mogeln

„Haben Sie in der Schule bei Prüfungen gemogelt?“ ist eine von vielen Fragen, die eine Zeitung wöchentlich wiederkehrend portraitierten Führungskräften gestellt hat. Natürlich habe ich mir überlegt, was ich antworten würde. – „Nein.“ klingt nicht schlecht, aber lässt einen als Streber dastehen, als Spassbremse oder als Perfektionist, der zu unbedeutenden Jugendverfehlungen nicht stehen kann. – „Ja, klar.“ Da steht man als unehrlicher Mensch da und wird sofort in einer bestimmten Schublade versorgt. – „Weiss nicht, ist lange her…?“ Da bist Du ertappt und willst es nicht einmal zugeben, das ist wohl das Mieseste! 

[Von der Jugendsünde zum wirtschaftlichen Sprengstoff.]

Ist das nicht seltsam? Wir alle haben doch gemogelt. Ein Zyniker würde vielleicht antworten: „Wenn ich in der Schule gemogelt hätte, würde ich vielleicht auch bei einem Interview nicht die Wahrheit sagen, also was soll die Frage?“ Aber wer so antwortet,  hat den Kontext nicht begriffen. Null Sozialkompetenz. Es geht bei der Frage weder um ein Verhör noch um eine intellektuelle Analyse. Es geht darum, wie einer damit umgeht, wenn Ehrlichkeit gefragt ist, aber Selbstschädigung lauert. Man muss sich elegant  durchwursteln: Die Sache so darstellen, dass es gut klingt, ohne direkt zu lügen. Gute Führungskräfte können sowas. Wo haben sie das gelernt? Sicher nicht an der Universität. - In der Schule haben wir bloss gelernt, dass man nicht mogeln darf. Und wenn, dass man sich wenigstens nicht erwischen lassen sollte. Und das war‘s dann. Dabei gäbe mittlerweile zwei wichtige Erkenntnisse, die alle wissen sollten.
Erstens: Menschen sind im Allgemeinen sehr ehrlich. Wenn Sie dem spontan nicht zustimmen, sollten Sie bedenken: Vor allem unehrliche Menschen halten andere für ziemlich unehrlich (Autsch!). Und zweitens: Wenn wir in einem Interessenkonflikt sind, wenn es also darum geht ob wir ehrlich sind oder der Dumme, dann sind die meisten Menschen „ziemlich ehrlich“, das heisst: Viele mogeln, aber nur ein bisschen. Solches schliesst man aus Studien wie dieser: Zuerst wird ein Fragebogen zum Allgemeinwissen von Studierenden gelöst, anschliessend werden die Fragebögen korrigiert und die Studierenden erhalten eine von der erreichten Punktzahl abhängige Belohnung. Nachdem man nun weiss, wie gut die Studierenden im Durchschnitt abschneiden, ändert man die Versuchsanordnung so, dass die nächsten Studierenden den selben Fragebogen ausfüllen, aber selbst korrigieren können. Geben sich nun alle 100 Punkte? Überhaupt nicht. Aber bei Selbstkorrektur schneiden die Studierenden immer ein paar Prozente besser ab. Dieses Resultat verändert sich nur geringfügig, wenn die Fragebögen vor der Belohnungsverteilung vernichtet werden und es absolut sicher ist, dass selbst dramatisches Mogeln nie und nimmer aufgedeckt werden kann. Wie kommt das? Offenbar ist kaum jemand bereit, den Fragebogen so zu manipulieren, dass er oder sie sich selbst als absoluten Lügner betrachten müsste. Aber so geht es vielleicht: „Bei Frage sieben, da wollte ich doch eigentlich zuerst noch das Richtige ankreuzen, und habe mich vertan und  … also eigentlich hätte ich das schon gewusst, also, diese Frage die bewerte ich mir als richtig.“
Diese Erkenntnisse haben weitreichende Konsequenzen. Wir dürfen davon ausgehen, dass überall wo Interessenkonflikte bestehen auch gemogelt wird. Genug um zu profitieren, aber nicht so viel dass es eklatanter Betrug wäre. Wahrscheinlich gewöhnt man sich dann ans Mogeln. Und wenn es die anderen auch tun, entsteht stillschweigend ein Standard des „akzeptablen“ Mogelns, der sich mit der Zeit nach oben bewegen kann. – Wäre das Vermeiden von Interessenkonflikten also wichtig? Denken Sie mal nach. Möchten Sie, dass ein Richter für seine „Dienstleistung“ von den Streitparteien finanziert wird? Nicht? Aber ein Arzt, der sein Einkommen steigern kann, wenn er mehr Medikamente verkauft und mehr operiert, das geht? Ein Finanzberater, der mehr Bonus erhält, wenn Sie Aktien kaufen statt Obligationen, das ist kein Problem? Und stellen Sie sich eine Bank vor, wo das Schönen der Qualität von Junk-Bonds „nur ein bisschen“ am Hauptsitz passiert, diese Informationen „nur ein bisschen“ weiter geschönt werden in den Länder-Organisationen, dann nochmals „nur ein bisschen“ am internen Briefing und dann nochmals beim Gespräch mit dem Kunden. Da finden Sie keinen Bösewicht, die Bosheit ist im System. Und das System heisst nicht einfach nur Lehman Brothers,  Enron oder VW, sondern die Grenzen müssen weiter gezogen werden, sodass sie Politik und Aufsichtsbehörden umfassen. Dann nämlich, wenn Gesetze und Kontrollverfahren zum Mogeln einladen.
Das hat mich aufhorchen lassen: Zwei führende Wirtschaftsprofessoren meinen, alle Weltwirtschaftskrisen seien auf systematisches Mogeln zurückzuführen. Es könnte also gut sein, dass Mogeln eine wirklich weltbewegende Sache ist. – Egal. Wir haben ja in der Schule alle nur ein bisschen gemogelt. Eigentlich fast gar nicht.  Und ich persönlich, ich habe in der Schule nie gemogelt, ausser wenn ich die Prüfung unfair fand.

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