Sonntag, 3. März 2019

Glücklich sterben


Glücklich sterben ist vielleicht hoch gegriffen. Nicht alle können im hohen Altern friedlich einschlafen, aber möglichst wenig zu leiden wäre schon viel. Dafür gibt es bereits einen Namen: Palliative Care. Darunter versteht man die Gesamtheit der Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen, ohne Absicht einer Lebensverlängerung. Aber ist das schon glücklich sterben?

[Glücklicher zu sterben ist eine gesellschaftliche Aufgabe.]

Die Schweiz leistet sich eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Man könnte denken, dass nicht nur unsere Aussichten auf ein langes, gesundes Leben international hervorragend sein müssten, sondern auch die Aussichten auf eine bestmögliche Lebensqualität am Lebensende. Dem ist nicht so. Die Schweiz ist bestenfalls ein palliatives Schwellenland. Zu diesem Schluss bin ich gekommen, nachdem ich einen Vortrag eines internationalen Experten gehört habe, der höflicherweise nur gesagt hat, dass die Schweiz nicht zur Spitze gehört. Hier ist, was ich davon erinnere:

Was ist das Problem mit dem Sterben? Dass das Leben danach aufhört? Nein, das ist nicht das Problem, das ist einfach die Natur der Sache. Das Problem heisst Einsamkeit, das Problem heisst Depressionen, das Problem heisst überforderte Angehörige, das Problem heisst Mangel an Geborgenheit, das Problem heisst sich der Medizin ausgeliefert zu fühlen, das Problem heisst, sich wertlos vorkommen, das Problem heisst teils auch Suizid. Alle diese Dinge sind vorhersehbar und vermeidbar oder zumindest könnte man günstig auf sie einwirken. Aber das wird erstaunlich stümperhaft getan: Bloss 5% ihrer Lebenszeit verbringen Sterbende in Gegenwart von Ärzten und Pflegenden, die für diesen Fall ausgebildet und vorbereitet sind. 95% ihrer Lebenszeit verbringen sie allein, mit Freunden, mit Verwandten und am Fernsehen oder im Internet, also mit Menschen und Strukturen, die keineswegs darauf ausgerichtet sind, die letzte Lebenszeit angenehm oder gar glücklich zu gestalten. - In allen anderen Lebensbereichen haben wir uns angewöhnt vorzusorgen: Wir haben Notfallpläne bei Feueralarm, wir machen Stresstests mit Banken und wir haben gesetzliche Bestimmungen für Massenentlassungen.  Aber wenn ein nicht hochbetagter Mensch vom Tod betroffen ist, sind nur ganz wenige Profis vorbereitet. Das soziale Umfeld von Sterbenden ist nicht bereit. Ein Schüler begeht Suizid, die Mutter eines Mitarbeiters liegt im Sterben, der Kollege aus dem Sportverein hat Diagnose aggressiver Darmkrebs – schon sind alle überfordert. Die Lehrperson, die Vorgesetzte, die Vereinskollegen haben keinen Plan. Die Organisationen, in denen sie sich bewegen, stellen ihnen nichts zur Verfügung, haben sie nicht vorbereitet, lassen sie im Stich. – Können wir das besser machen? Natürlich können wir. Zunächst müssen wir anerkennen, dass eine professionelle Palliativ-Medizin wichtig ist, aber dass sie bei weitem nicht genügt. Die Lebensqualität am Lebensende wird weitgehend durch das direkte soziale Umfeld, also durch Laien mitbestimmt. Wenn wir das Lebensende würdig gestalten wollen, müssen wir uns folglich als Gesellschaft bewegen. Und das gelingt am ehesten, wenn Gemeinden oder Städte es anpacken, dass über das Lebensende gesprochen wird: Einzelne Schulen können Leitlinien im Umgang mit Todesfällen erarbeiten, einzelne Firmen können Personalreglemente anpassen, manche Vereine können sich dem Thema annehmen. Die öffentliche Verwaltung kann Austauschforen schaffen und Erfolge hervorheben. Und die lokale Politik kann sich anhand von zwölf Punkten zu einer Charta bekennen.

Sollen wir solches tun? Spart das Kosten? – Natürlich spart das Kosten, aber es genau nachzuweisen ist schwierig. Entscheidend ist das allerdings nicht. Entscheidend ist dies: Glücklicher zu sterben ist letztlich ein Weg für uns alle, um glücklicher zu leben. Darum wäre eine bessere Frage: Wie können wir anfangen? – Vielleicht so: Wenn das Thema Sterben im Raum steht, es ansprechen und dann schweigen und zuhören, damit die Betroffenen etwas sagen können. Das ist wenig, aber wenn es viele tun, ist es der Anfang von einem glücklichen Ende.


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