Freitag, 4. September 2015

Individualismus



Individualismus ist ein Gedanken- und Wertsystem, bei dem das Individuum im Zentrum steht. In der Ökonomie wird der Begriff „Individualismus“ meist mit dem etwas sperrigen Wort „methodologisch“ zum „methodologischen Individualismus“ ergänzt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht etwa um ein Wertsystem handelt, sondern nur um ein wertneutrales Gedankensystem, das Ökonomen hilft, die Welt zu verstehen.

[Ist es egoistisch, anderen Freude zu bereiten?] 


Wenn also beispielsweise die Preise für Erdöl steigen, müsste eine akzeptable Erklärung in der Reaktion von Individuen auf veränderte Rahmenbedingungen zu suchen sein, nicht in der Gesellschaft an sich. Die Perspektive einer fiktiven, durchschnittlichen Einzelperson einzunehmen wird zur „Methode“ erhoben. Diese fiktive Person wird generell von Ökonomen als eigennützig und nicht dumm angesehen. Eigennützig, indem sie lieber günstig einkauft als teuer, nicht dumm, indem sie merkt, wenn sich Preise verändern und darauf reagiert. Das scheint alles vernünftig und harmlos, ist es aber nicht. Denn in dieser Modellwelt kommt nicht vor, dass Menschen gerne kooperieren, dass sie gerne helfen, dass sie mitfühlen und gerne Dinge aus eigenem Antrieb tun. Sie reagieren nur auf veränderte Preise, fertig. Wer sich täglich in einer solchen Modellwelt bewegt, muss den Eindruck bekommen, all die anderen Dinge seien tatsächlich nicht wichtig – dabei sind sie sehr wichtig. Aber es ist einfach bequemer, sie zu ignorieren, weil sonst das ganze schöne ökonomische Gedankengebäude ins Wanken geraten könnte.

In der Glücksforschung wurde zweifelsfrei belegt, dass Menschen gerne anderen Menschen Freude bereiten. Und dass es ihnen erst noch selbst gut tut. Ha! ruft der Ökonom, es ist also völlig egoistisch, anderen Freude zu bereiten. Da irrt er sich gewaltig. Wie jeder lebenserfahrene Mensch weiss, ist es nicht das Selbe, ob ich selbstlos helfe oder um des Lohnes willen. Die Geschichte von Frau Holle mit den Figuren der hilfsbereiten, engagierten Goldmarie und der egoistischen, faulen Pechmarie macht dies seit Generationen auch Kindern verständlich.
Die Positive Psychologie bestätigt dies. Glück hat viel mit helfen zu tun und viel mit Gemeinschaft. Dies zeigt sich etwa darin, dass Gefühle viel weniger privat sind, als wir gemeinhin denken, dabei wüssten wir längst, dass Gefühle sehr ansteckend sind: Wer angelächelt wird, lächelt mit hoher Wahrscheinlichkeit zurück. Und in einer Runde gut gelaunter Menschen ist es schwierig, lange den Kopf hängen zu lassen. Probieren Sie’s aus. Schauen Sie sich Gesichter von lächelnden Menschen  an. Grüssen Sie die Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz mal einen Morgen lang ausnehmend fröhlich. Es geht übrigens auch mit negativen Emotionen, auch wenn das Forcieren dort weniger empfehlenswert ist. Diese Verbundenheit der Menschen miteinander hat ganz handfeste Auswirkungen: Menschen, die mehr Leute in Ihrer Nachbarschaft kennen, geben im Durchschnitt eine höhere allgemeine Lebenszufriedenheit zu Protokoll. Und obendrein leben sie dann länger. Sollte uns das in unserer individualistischen Gesellschaft nicht zu denken geben? – Weiter wurde festgestellt, dass sich Menschen für eine Belohnung mehr anstrengen, wenn diese Belohnung dem eigenen Arbeitsteam zugutekommt als wenn die Belohnung für sie persönlich gedacht ist. – Wer jetzt ungläubig den Kopf schüttelt, dem sei gesagt, dass es sich nicht um irgendeine Online-Befragung eines Modemagazins handelt, sondern um mehrere seriöse Studien angesehener Universitäten. Und: Ja, das steht in ziemlichem Kontrast zu den Anreizsystemen der meisten grossen Firmen, vor allem von Banken und Versicherungen.
All diese Beobachtungen und Überlegungen sollen nicht bedeuten, Individualismus und  Selbstverwirklichung seien etwas Schlechtes. Das Gegenteil ist der Fall. Sich Ziele setzen und danach streben ist ein genauso starkes und berechtigtes Grundbedürfnis wie jenes nach Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung. Es muss also um die ausgewogene Verbindung von individuellen und sozialen Bedürfnissen gehen. Erst die einseitige Betonung des Individualismus auf Kosten des Gemeinsinns ist gefährlich.

-------------------------------------- Das subjektive Wirtschaftslexikon von Alexander W. Hunziker

  • Neid - ist eine Triebfeder der Wirtschaft mit Nebenwirkungen
  • Achtsamkeit - wird in keinem Wirtschaftslexikon definiert, sollte aber
  • Neoliberalismus - stellt nur vordergründig eine wissenschaftliche Bewegung dar

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