Mittwoch, 4. März 2015

Neoliberalismus



Neoliberalismus ist ein Begriff, der vordergründig eine wissenschaftliche Strömung darstellt, hintergründig aber vielmehr auf eine Ideologie verweist. Die liberale Grundposition ist, dass der Staat sich nicht einmischen soll in wirtschaftliche oder soziale Fragen und stattdessen die Selbstverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern ins Zentrum zu stellen habe.


[... allen Bürgerinnen und Bürgern einen Gutschein für den Besuch von Veranstaltungen der lokalen Kulturinstitutionen zukommen zu lassen.] 

Diese Position ist an sich gut haltbar, insbesondere als Gegengewicht zu einer interventionistischen Position, die bei fast jedem wirtschaftlichen und sozialen Problem einen staatlichen Eingriff für notwendig erachtet und bei übertriebener Anwendung in die demokratisch selbst gewählte Unfreiheit zu münden droht.
Der Neoliberalismus kann als Steigerung der liberalen Haltung verstanden werden, denn er fordert den Verzicht auf Staatseingriffe in radikaler Form. Es ist neoliberal betrachtet beispielsweise völlig unklar, warum man Kulturinstitutionen subventionieren soll. Man könnte sie dem Markt überlassen und wenn sie eingehen feststellen, dass es sie offenbar nicht gebraucht hat.
Solche Überlegungen machen den Neoliberalismus nicht nur für viele Intellektuelle unsympathisch, sondern gar zum politischen Schimpfwort. Tatsächlich müssen sich Exponenten des Neoliberalismus vorwerfen lassen, dass sie einfach grundsätzlich darauf vertrauen, dass der freie Markt alle Probleme regelt, völlig unabhängig von praktischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Forschungsresultaten. Die Glücksökonomie jedenfalls hat festgestellt, dass Menschen in Staaten mit hoher Staatsquote und hohen Steuern keinesfalls unglücklicher sind. Wichtiger für die Lebenszufriedenheit der Menschen ist, ob sie den Eindruck haben, die Staatsmittel werden redlich verwendet und ob sie Einfluss nehmen können, wie sie eingesetzt werden.
Lassen sich diese Gegensätze überwinden? Eine Idee wäre etwa, allen Bürgerinnen und Bürgern jährlich mit der Steuerrechnung einen Gutschein für den Besuch von Veranstaltungen der lokalen Kulturinstitutionen zukommen zu lassen. Das Steuergeld also an die Bürgerinnen und Bürger zurück zu verteilen und damit auch die Macht abzugeben, das Programm zu bestimmen: Fliessen die Gutscheine in Oper oder Tanz, Klassik oder Jazz, Shakespeare oder Experimentaltheater? Ein Vorteil dieses Ansatzes wäre natürlich, dass sich der Staat nicht mit der Frage befassen müsste, ob beispielsweise zwei Kulturinstitutionen zusammengelegt werden müssten, das würde dann der Markt entscheiden.
Hier sind wir am entscheidenden Punkt: Man möchte kulturpolitische Entscheide von solcher Tragweite eben gerade nicht aus der Hand geben, obwohl sie immer mit mühsamen, ja gar schmerzhaften Prozessen verbunden sind. Obendrein ist es nicht falsch zu behaupten, die Wissenschaft sei noch entfernt davon, verlässliche Prognosen machen zu können, ob so etwas wirklich gut funktioniert. Für Prognosen sind wir auf Erkenntnisse und Theorien angewiesen, die sich womöglich nicht auf die konkrete Einzelsituation anwenden lassen. Da ist es doch einfacher, liberale Gedanken in die neoliberale Ecke zu drängen und als extrem und ideologisch abzutun. Dabei wäre vielleicht zu bedenken, dass liberale Ökonomen schon vor fünfzig Jahren in einem ganz anderen Bereich eine völlig neue Denke, ein völlig neues Ordnungsprinzip gefordert haben und damals auf dieselben Gegenargumente gestossen sind. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Akzeptanz für ihr Konzept gewachsen ist, bis sich eine scheinbar verrückte, ökonomische Idee langsam zur Selbstverständlichkeit gewandelt hat: Ich meine die Kehrichtsackgebühr. Analoges dürfte sich wohl bald auch über die Betreuungsgutscheine für Kindertagesstätten in der Stadt Bern sagen lassen. Neoliberalismus ist also womöglich nicht nur eine wissenschaftliche Strömung und eine Ideologie, sondern auch eine bequeme Ausrede.

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